Man sieht Menschen vor dem Bürgerkrankenhaus in Palermo, wie sie nervös an ihren Zigaretten ziehen. Andere, die Fingernägel kauen. Solche auch, die ein Stossgebet zum Himmel schicken. Sie alle teilen die gleiche Sorge: jene um Salvatore - besser bekannt als Toto - Schillaci.
Seit Sonntag liegt der Zeremonienmeister der magischen Nächte von «Italia 90» in der Pneumologie. Dabei galt er vor zwei Jahren nach zwei Dickdarmoperationen als geheilt. Nun aber soll der Krebs in sehr aggressiver Form wieder aufgetreten sein. Zudem leidet er an einer Lungenentzündung. Weshalb nun ganz Italien um das Leben eines 59-jährigen Mannes bangt, der einst als Aussenseiter zum Helden der ganzen Nation aufgestiegen ist, ein zerrissenes Land zumindest temporär geeint hat.
Toto Schilacci blühte vielleicht nur einen Sommer lang. Im Fussball war er vielleicht sogar der Erfinder des One-Hit-Wonders. Aber seine Geschichte ist derart aufregend und einzigartig, dass er bis heute nicht in Vergessenheit geraten ist.
März 1990. Italien ist schon länger ein zerrissenes Land. Vier Jahre zuvor hatte Umberto Bossi die Lega Lombarda gegründet, die später zur Lega Nord werden sollte. Der reiche Norden strebte die Abspaltung an, wollte «nichts mehr mit dem faulen und schmutzigen Süden zu tun haben», wie die Partei proklamierte.
Der Nord-Süd-Graben durchpflügte auch den Fussball. Wenn Mannschaften aus dem Süden im Norden antraten, wurden sie nicht selten mit Bananen beworfen. Die «Terroni» (Erdfresser) sollten bleiben, wo sie herkommen, so der Tenor. Denn wer braucht die Bauerntölpel schon, wenn man einen Zenga, Baresi, Maldini, Bergomi, Ferri, Donadoni, Ancelotti, Vialli, Mancini oder Baggio hat, die ihre Wurzeln im Norden haben.
In diese politisch aufgeheizte Zeit fällt ausgerechnet die Heim-WM – «Italia 90». Maradona ist satt, Brasilien stolpert über die eigenen Beine, England sowieso, Deutschland kann nur rennen und kämpfen – bleibt eigentlich nur ein Favorit übrig: Italien, wer sonst? Oder «unsere Jungs aus dem Norden», wie man es in Mailand und Turin hört.
Als Nationaltrainer Azeglio Vicini im März 1990 im Basler «Joggeli» gegen die Schweiz zum letzten WM-Test bittet, steht erstmals einer in der Squadra Azzurra, der so gar nicht reinpasst. Sizilianer, unbekannt, eher schmächtig, weder besonders geschmeidig noch schnell, 25 und schon Geheimratsecken. Neben dem schillernden Roberto Baggio, dem schönen Paolo Maldini und dem charismatischen Franco Baresi hätte man Toto Schillaci auch für den Materialwart der Italiener halten können.
1989 wechselt der Stürmer von Zweitligist Messina zu Juventus Turin. 15 Tore in 30 Spielen im Piemont sind aller Ehren wert. Aber er bleibt ein «Erdfresser». «Als ich noch in Turin spielte, haben sie mich oft ‹Terrone› gerufen, weil ich aus Sizilien komme», sagte er. «Aber ich habe mir das nicht zu Herzen genommen und mir gesagt: ‹Sie beleidigen dich, weil sie dich fürchten.›»
Der Start in Turin gelingt. Und bei der Länderspiel-Premiere in Basel macht er seine Sache gut. Aber die WM? Mamma mia, das ist dann schon noch mal eine andere Geschichte, mindestens eine Nummer zu gross für den kleinen Toto, der mit 13 die Schule abbrach und als Velomechaniker ein bisschen was verdiente. Doch ausgerechnet dieser Aussenseiter aus Sizilien wird während eines Sommers jener Nenner, auf den sich die Menschen aus dem Norden und dem Süden gleichermassen einigen können.
Ja, Schillaci schaffte es ins Aufgebot, was selbst ihn überraschte. «Ich rechnete vorher nicht einmal damit, überhaupt einen Platz auf der Bank zu erhalten», erzählte Schillaci dem Magazin «11 Freunde». «20 Minuten vor Ende des Spiels sagte mir Trainer Vicini, ich solle mich warm machen. In diesem Moment dachte ich … ehrlich gesagt, dachte ich an nichts.»
Italien, der grosse Titelfavorit, tut sich im ersten WM-Spiel schwer gegen Österreich. 0:0 steht es, als Schillaci in der 75. Minute eingewechselt wird. Nur vier Minuten später erzielt er in seinem zweiten Länderspiel mit seiner ersten Ballberührung per Kopf den 1:0-Siegtreffer. Toto der Nationalheld war geboren. «Die Einfachheit, die Bescheidenheit und die Tatsache, dass ich aus dem Nichts kam und plötzlich jemand war - all das hat dazu geführt, dass mich selbst Leute liebten, die vorher gar nicht wussten, wer ich war», sagte Schillaci.
Was nach diesem Treffer gegen Österreich passiert, ist schlicht märchenhaft. Obwohl die Krönung mit dem WM-Titel fehlt. «Wir waren die stärkste Mannschaft und hätten den Titel verdient gehabt», resümierte Schillaci. «Keiner hat uns besiegt, nur die Argentinier im Penaltyschiessen. Leider hat unser Goalie Walter Zenga damals ausgerechnet im Halbfinal seinen einzigen Fehler im ganzen Turnier gemacht.» Schillaci, der die Trophäe des Torschützenkönigs und die Auszeichnung für den besten Spieler des Turniers mit nach Hause nahm, war fortan ein Nationalheld.
Für Italien kam er nach dem verlorenen WM-Halbfinal gegen Argentinien nur noch achtmal zum Einsatz. Auch im Klub baute er stark ab. In vier Saison für Juventus und Inter erzielte er lediglich 22 Tore. Danach liess er seine Karriere in Japan ausklingen. An seiner Popularität änderte das nichts. Schillaci ist bis heute das Synonym für den kometenhaften Aufstieg eines Aussenseiters.
Schillaci steht bis heute dafür, in einer schwierigen Zeit seinen Anteil geleistet zu haben, dass Italienerinnen und Italiener zumindest einen Sommer lang so etwas wie einen gemeinsamen Traum hatten. «Es gibt Spieler, die spielen 20 Jahre und schaffen nicht das, was ich erreicht habe. Es war nur ein Sommer, na und? Es gibt Schlimmeres im Leben», sagte Schillaci.
Die Differenzen zwischen Nord und Süd sind bis heute nicht ausgeräumt, daran konnte auch Schillacis Fussballzauber im Sommer 1990 nichts ändern. Aber in der Sorge um das Leben des wuseligen Stürmers von damals sind sie heute wieder vereint, die im Norden und die im Süden.
Forza Totò!!! ❤️#Schillaci pic.twitter.com/8D9DlrKEoG
— GleisonTop (@Gleison_Top) September 8, 2024
Sein früherer Teamkollege Roberto Baggio postete auf Instagram mehrere Bilder der beiden. «Forza Totò», schrieb er und ergänzte in Anlehnung an die magischen Nächte von 1990: «Mache noch einen Zauber.» Derweil wird seine Frau Barbara vor dem Spital von den Tifosi belagert. «Unser geliebter Toto befindet sich in einem stabilen Zustand und wird Tag und Nacht von einem Ärzteteam überwacht», gibt sie preis. (aargauerzeitung.ch)