Dienstag, 8 Uhr, Hauptbahnhof Zürich, Gleis 9. Da wartet er, wie abgemacht. Sepp Blatter, gut geschnittener dunkelblauer Anzug, eleganter Schal. Trotz nur 171 cm Körpergrösse (steht in Wikipedia) ist er eine auffällige Erscheinung im Pendlerverkehr. Einige Leute drehen sich um. «Manchmal wollen sie ein Föteli mit mir machen», sagt Blatter.
Diesmal ist die Zeit zu knapp. Die Zugskomposition ist anders als auf der Infotafel angekündigt. Vielleicht, weil es ein ICE-Zug der Deutschen Bundesbahn ist, der Blatter nach Graubünden bringt? Wir eilen Sektor um Sektor Richtung Zugspitze, ehe wir den Waggon mit dem reservierten Abteil erreichen. Blatter flachst: «Sind wir schon in Landquart?» Wir steigen ein, der Zug fährt los.
Blatter ist derzeit ein gefragter Mann. Das liegt daran, dass am 20. November die Fussball-WM in Katar angepfiffen wird. Es ist seine letzte Weltmeisterschaft. Genauer: Die letzte WM, deren Vergabe er als Fifa-Präsident zu verantworten hat. Und weil Katar seit Jahren stark in der Kritik steht wegen Tausenden von toten Arbeitsmigranten auf den Baustellen, wegen der Diskriminierung von Frauen und Homosexuellen und vielen anderen Dingen, wird das Scheinwerferlicht auf jenen Mann gedreht, der 2010 mit säuerlicher Miene einen Zettel mit der Aufschrift «QATAR» der Weltöffentlichkeit präsentierte.
Das liegt nunmehr 12 Jahre zurück und Blatter ist längst nicht mehr Fifa-Präsident. Der Mann ist inzwischen 86. Seine Augen funkeln noch immer, aber sie strahlen nicht mehr die machiavellistische Kraft aus, die ihn, einst Sportjournalist, bis in das höchste Amt des wichtigsten Sportverbandes der Welt gebracht hat. Nein, die Aura der Macht hat Blatter nicht mehr, nun ist es eine Aura der Sanftmut. Geblieben sind der Schalk, das Charisma. Sepp Blatter hat etwas Grossväterliches.
Er ist zu einem Anlass in St. Moritz eingeladen, am Abend wird er wieder zurück nach Zürich fahren und in seiner neuen Wohnung übernachten, in der er erst seit einem Monat lebt. Blatter ist im hohen Alter noch umgezogen. Nicht freiwillig. Nach 18 Jahren musste er raus aus der Wohnung am Sonnenberg. Sie gehörte der Fifa, deren Präsident Blatter seit 1998 war, bis er 2015 mit grossem Getöse und juristischen Nachspielen suspendiert wurde. Die Fifa verkaufte nun die Wohnung: «Weil sie Geld braucht für den juristischen Kampf gegen ihren Ex-Präsidenten», sagt Blatter, und es tönt eher bissig als verbissen.
Nun lebt Blatter in einem anderen Quartier, in einer kleineren Wohnung, mit Seeblick. Irgendwann will er ins Wallis zurückkehren, in seine Heimat. Noch sei es aber zu früh dafür, sagt er: «Zuerst muss ich in Zürich alles zu Ende bringen.» Er meint damit seinen juristischen Kampf. Nachdem er im Juli vom Bundesstrafgericht in Bellinzona wegen einer 2-Millionen-Franken-Zahlung an Fifa-Funktionär Michel Platini freigesprochen worden ist, droht ihm quasi vor der Haustür neues Ungemach.
Es geht um das Fifa-Museum in Zürich, das zwar ein grosser Besuchererfolg ist, nach heutiger Einschätzung der Fifa jedoch zu teuer ist. «Dafür will mich die Fifa verantwortlich machen», sagt Blatter. Das Museum wurde zwar während seiner Amtszeit initiiert, aber erst nach seiner Suspendierung als Fifa-Präsident eröffnet. Blatter sagt: «Der Bau des Museums war ein Entscheid der Fifa und nicht von mir allein. Und wenn der neue Präsident sich am Anfang seiner Amtszeit um das Museum foutiert hat, ist das nicht meine Schuld.» Der neue Präsident, das ist Gianni Infantino; Blatter meidet den Namen.
Vor dem Zugfenster zieht der Zürichsee vorbei. Warum tut sich Blatter mit 86 all die Auftritte an, die Medientermine, auch im Ausland, eben beim ZDF? Blatter geht es um seine Rehabilitierung, gewiss, aber er antwortete auf die Frage anders. «Es ist gut, wenn öppis los ist», sagt er. Termine mit Journalisten brächten Bewegung in sein Leben, «da kann ich mein Gedächtnis auffrischen und meinen Kopf arbeiten lassen».
Ende 2020 hing sein Leben an einem seidenen Faden. «Ich war gesundheitlich stark angeschlagen, habe bereits die Engel gesehen.» Um hinzuzufügen: «Es ist besser, wenn man etwas Weisses statt nur noch ein schwarzes Loch sieht.» Der Walliser erzählt freimütig, er sei nicht nur körperlich, sondern auch psychisch am Boden gewesen: «Ich habe heftige Attacken erlebt.»
Es war das Herz. «Ausgerechnet jenes Organ, von dem ich dachte, es sei stärker als alles andere in meinem Körper.» Die Ärzte setzen ihm drei Bypässe ein, doch es kam zu Komplikationen. Einen Monat zuvor hatte er Corona, diese Krankheit war vermeintlich ohne Folgen vorbeigegangen. Als er dann für die Herz-OP ins Spital musste, versagte aber die Lunge ihren Dienst. «Ich lag zwei Wochen im künstlichen Koma, und als ich erwacht bin, konnte ich nicht mehr sprechen.»
Über den Berg zu kommen, sich wieder aufzurappeln, die Sprache wiederzufinden: Dabei hat ihm sein Glaube an Gott geholfen. Und ein Bild von Rolf Knie. Blatter erinnert sich, im Spital sei alles fürchterlich steril und weiss gewesen. Sein Berater Thomas Renggli, Sportjournalist und Autor von Blatters Biografie, hat Farbe ins Zimmer gebracht. Renggli holte das grösste und farbigste Bild aus der Sammlung des Künstlers und stellte es im Klinikzimmer auf. «Von dem Moment an ging es bergauf», sagt Blatter. Das Bild hängt inzwischen in seiner Visper Wohnung.
Seinen Kampfeswillen hat Blatter von seinem Vater geerbt. «Er sagte stets: Wir Blatters kämpfen. Ich habe keine besonderen Talente. Aber was ich habe, ist ein unbändiger Wille.» Dieser Wille wurde Anfang 2021 auf eine harte Probe gestellt. Nach dem Aufwachen aus dem Koma sei das Schlimmste gewesen, nicht mehr sprechen zu können. Danach seien ihm zuerst Walliserdeutsche Worte wieder über die Lippen gekommen. Erst nach zwei Monaten habe er sich wieder richtig – und auch in Fremdsprachen – unterhalten können. «Hätte ich mich nicht erholt, würde ich jetzt hiersitzen wie ein Kürbis.»
Den Kampf um sein Leben hat er gewonnen, jetzt macht er sich wieder daran, den «Kampf um Gerechtigkeit» fortzusetzen. Es ist ebenfalls ein Kampf in eigener Sache – es geht um sein Vermächtnis.
Blatter räumt zurzeit auf allen Kanälen mit dem «Irrtum» auf, er sei für die WM-Austragung in Katar gewesen. Er habe es immer falsch gefunden, die Fussball-WM an ein kleines Land wie Katar zu vergeben. «Bei diesem Thema bin ich mit Herz und Seele dabei, um nun die Dinge richtig zu stellen, aber auch, damit die Menschen auf der ganzen Welt mich und mein Handeln besser verstehen.»
Blatter nimmt sich nicht aus der Verantwortung, er sei 2010, zum Zeitpunkt der Vergabe, Fifa-Präsident gewesen und es sei ihm nicht geglückt, das Exekutivkomitee auf seine Seite zu bringen: «Ich war für die USA als Ausrichterin der WM 2022, und im Komitee bestand lange auch ein Konsens, dass die WM nach Amerika gehört.» Die Idee sei gewesen, die beiden Grossmächte Russland (2018) und USA (2022) nacheinander zum Zug kommen zu lassen.
Es gab aber schon unmittelbar vor der Vergabe Gerüchte darüber, dass sich drei Exekutivmitglieder von Katar bestechen liessen. Das Ergebnis fällt 14:8 für Katar und gegen die USA aus. Stimmten jene drei Mitglieder für die USA, hätte es 11:11 gestanden, und Blatter hätte mit Stichentscheid die WM in die USA vergeben können.
Hätte er es also selbst in der Hand gehabt, Katar zu verhindern – indem er jene Mitglieder ausgeschlossen hätte, die unter Verdacht standen? Nein, antwortet Blatter, weil er damals nichts von den Korruptionsvorwürfen gewusst habe. Erst etwa vier Jahre später wurde der sogenannte Garcia-Bericht veröffentlicht. Und der konkrete Verdacht gegen drei Exekutivmitglieder sei viel später aufgerollt worden: durch die US-Justiz.
Verantwortlich macht er hingegen den damaligen Uefa-Präsidenten Michel Platini. Dieser hat ihn wenige Tage vor der WM-Vergabe angerufen. «Platini teilte mir mit: Hör zu, es geht nicht mehr so, wie wir das angedacht haben. Ich fragte, warum? Er sagte, er sei von Staatspräsident Nicolas Sarkozy zu einem Essen in den Elysée-Palast bestellt worden. Mit am Tisch sass auch der Kronprinz von Katar. Sarkozy habe ihm, Platini, den Auftrag erteilt, dafür zu sorgen, dass Katar den Zuschlag erhält. Zusammen mit drei Gefolgsleuten ist Platini dann umgeschwenkt. «Und wissen Sie was? Sechs Monate später hat Katar den Franzosen für 14.5 Milliarden Dollar Kampfflugzeuge abgekauft.»
Wäre Katar nicht trotzdem zu verhindern gewesen? Fakt ist: Je länger die Vergabe zurückliegt, desto häufiger erscheinen erschütternde Berichte über die Zustände auf den WM-Baustellen. Auch Blatter kriegte diese mit. Und so verkündete er 2014: «Wir können Katar die WM jederzeit wegnehmen.» Nur, die Drohung nahm kaum jemand für voll. Denn es wurde vermutet, dass durch Schadenersatzforderungen aus Katar die Fifa bankrottgehen könnte.
Heute sagt Blatter: «Wir hatten zu jener Zeit etwa 1.5 Milliarden Dollar Reserve. Glauben Sie mir: Wir hätten eine Neuvergabe finanziell verkraften können.» Doch so weit kam es nicht. Blatter musste wenig später seinen Posten räumen und «mein Nachfolger hat an seinem ersten Kongress als Fifa-Präsident unmissverständlich klargemacht: Wir bleiben in Katar».
Schämt sich Blatter heute für Katar? «Kein bisschen», antwortet er. Man habe 2010 nichts von den schlechten Arbeitsbedingungen für Migranten und den anderen Problemen gewusst. Er sei aus praktischen Gründen gegen Katar gewesen: Das Land sei zu klein und zu heiss, um im Sommer Fussball zu spielen. Trotzdem wird er in seiner Zürcher Wohnung die WM vor dem Fernseher verfolgen.
Inzwischen sehen wir zur Linken den Walensee. «Herr Blatter, Ihr Ansehen hat enorm gelitten, die Fifa wurde von der US-Justiz als mafiöse Organisation bezeichnet...» In Blatters Augen blitzt wieder dieser Schalk, und bevor wir die Frage ausformuliert haben, sagt er: «Da bin ich froh, dass Sie sich zu mir in den Zug gesetzt haben!»
Seit seinem Freispruch vor dem Bundesstrafgericht ist Blatters Mission der Rehabilitierung in voller Fahrt. Sein Rezept war immer: Hinstehen, sich nicht verstecken. Anders als gescheiterte Swissair- oder Grossbank-Manager ist er nie abgetaucht. Auf der Strasse oder auf Bahnhöfen sei er zu keinem Zeitpunkt angepöbelt worden, erzählt Blatter.
Er sei auch immer wieder im Zug unterwegs gewesen. «Dazu erzähle ich Ihnen eine lustige Geschichte», fällt es Blatter nun ein. «Vor vielen Jahren fuhr ich mit dem Zug von Bern nach Zürich. Ich sehe Bundesrat Moritz Leuenberger im Abteil sitzen und frage ihn, ob ich mich zu ihm setzen dürfe. Erstaunt sagte er: Natürlich, mit Ihnen habe ich nicht gerechnet. Ich dachte stets, Sie würden mit dem Helikopter reisen.»
Blatter fühlte sich nie geächtet, allerdings ungerecht behandelt, auch von den Medien, obwohl für ihn, den ehemaligen Sportredaktor, klar ist: «Die Journalisten sind eigentlich meine Freunde. Früher habe ich mit ihnen Fussball gespielt.» In seinem Zürcher Umfeld ist Blatter, der allein lebt, gut integriert, er ist Mitglied von Gruppierungen und Stämmen, hat sein Lieblingslokal, in dem er einmal täglich essen geht.
Hört man ihm zu, bekommt man den Eindruck eines Mannes, der die Balance zwischen Kampf und Versöhnung gefunden hat, mit sich im Reinen ist. Manchmal schweift er ab, erzählt von früher, von seiner Begegnung mit Queen Elizabeth II, mit Nelson Mandela – niemand sonst habe ihn mehr beeindruckt. Auch seine frühere Nähe zu Russlands Präsident Putin spricht er an, um sich vom heutigen Kriegstreiber zu distanzieren: «Er ist ein ganz anderer Mensch geworden.»
Nur wenn die Rede auf seinen Nachfolger als Fifa-Präsident kommt, schimmert Verbitterung durch. Blatter fühlt sich von Gianni Infantino, seinem Walliser Landsmann, ungerecht behandelt, ausgegrenzt, ja sogar gemobbt. Und er wirft ihm vor, den Standort Zürich zu schwächen, wittert gar Pläne, den Hauptsitz der Fifa in ein anderes Land verlegen zu wollen. Was Infantino in jedem Interview abgestritten hat.
Herr Blatter, was hat Ihr Nachfolger gegen Sie? «Ich weiss es nicht», antwortet er, Infantino verweigere sich, und er schaue den Leuten auch nicht in die Augen. «Bundesrätin Viola Amherd wollte uns im Wallis zusammenbringen. Aber er ist nicht erschienen.»
Einfahrt in Landquart, umsteigen auf den Zug nach St. Moritz. Dort wird Blatter an einem Anlass mit 180 Senioren von Gemeindepräsident Christian Jott Jenny interviewt.
Dem einst mächtigsten Mann des Weltfussballs wird ein gebührender Empfang bereitet. Am Bahnhof steht ein Auto der Gemeindepolizei für ihn bereit.