Bereits nach vier Minuten des WM-Achtelfinals 2006 gegen Ghana wird er steil geschickt. Weil die Verteidigung auf ihre Abseitsfalle spekuliert, steht Ronaldo dann alleine vor dem Torhüter – dass das keine gute Idee ist, erfahren die Afrikaner kurz danach. Ein kurzer Übersteiger mit rechts, den Ball mit dem anderen Fuss angetippt, schon hat der damals 30-Jährige freie Schussbahn und lässt sich den Führungstreffer nicht mehr nehmen.
Es war der letzte WM-Treffer von «Il Fenomeno». Seither wartet Brasilien auf einen Nachfolger. Nun liegen die Hoffnungen auf Richarlison – und der 25-Jährige glaubt, diese erfüllen zu können. «Ich werde Brasiliens bester Torschütze bei der WM in Katar sein», sagt er im Interview mit Globo. Trotz der starken Konkurrenz im Sturm des Schweizer Gruppengegners um Gabriel Jesus von Arsenal oder Roberto Firmino von Liverpool war Richarlison zuletzt gesetzt. Er erzielte in sechs Spielen sieben Tore. 16 Jahre nach der WM in Deutschland soll es in Katar also wieder ein «R9» richten.
Richarlisons Weg begann in Nova Venécia, einer kleinen Stadt knapp 800 Kilometer nördlich von Rio de Janeiro. Und beinahe hätte er dort auch geendet. «Wo ich gelebt habe, gab es viele Leute, die Drogen konsumierten und Waffen besassen. Es war eine gefährliche Gegend», sagte er einst gegenüber FourFourTwo. Mehrere Male hätte er sein Leben verlieren können, weil er am falschen Ort gewesen sei. «Viele meiner Freunde haben sich in Drogen verloren und die meisten von ihnen sind im Gefängnis.»
Für ihn gab es hingegen immer nur den Fussball. Wie für so viele brasilianische Fussballer aus armen Gegenden war der Sport ein Ausweg. Doch der Fussball hat Richarlison nicht nur im übertragenen Sinne das Leben gerettet. Als er 14 Jahre alt war, wurde ihm eine Pistole an den Kopf gehalten. «Er dachte, ich sei ein Drogendealer.» Aber der Jugendliche zeigte den Ball, den er mit sich trug, und erklärte, dass er nur auf dem Heimweg vom Fussballspielen sei. So entkam er der Situation glimpflich, wie Richarlison bei «The Players' Tribune» schreibt.
Schon lange davor ordnete der heutige Tottenham-Profi alles dem Fussball unter. Seine Eltern trennten sich, als er sieben Jahre alt war, und weil Richarlison wusste, dass seine Mutter mit dem Sport nicht viel anfangen konnte und ihn wohl nicht zum Training oder zu Spielen fahren würde, sprang er vom Umzugswagen und rannte zu seinem Vater. Von diesem hatte er die Liebe zum Ball und die verlor er auch nicht, als er drei Jahre später zur Mutter zurückkehrte.
Weil diese Unterstützung brauchte, musste er bereits im Alter von 11 Jahren arbeiten. Er verkaufte Eis, wusch Autos und arbeitete auch auf der Farm seines Grossvaters. Spass machte ihm das nicht – er wollte nur Fussball spielen. Bloss reichte das Talent allein nicht, immer wieder wurde Richarlison von grösseren Vereinen abgewiesen. Auch mit 17 – einem für einen Jugendakademie-Spieler gehobenen Alter – wartete er noch auf einen Vertrag. Als er dann sah, wie schlecht es seinem Vater ging, der immer noch allein wohnte und zudem unter Depressionen litt, legte sich bei Richarlison ein Schalter um, wie er schreibt. Ihm war klar: «Ich muss ihn da rausholen.» Und dazu gab es nur eine Möglichkeit: den Fussball.
Diese zusätzliche Motivation kam genau zur rechten Zeit. Damals war er gerade im Probetraining beim brasilianischen Zweitligisten América Mineiro. «Es war meine letzte Chance.» Richarlison begann, noch härter zu trainieren – und das zahlte sich aus. Bald darauf hatte er seinen ersten Vertrag in der Tasche. Über Fluminense ging es im Sommer 2017, kurz nach seinem 20. Geburtstag, nach England zu Watford und ein Jahr später zu Everton.
Bei den englischen Fans war er nicht immer beliebt. Immer wieder fiel sein Name, wenn es um den meistgehassten Spieler ging. Mal fiel er mit Schwalben auf, mal mit groben Fouls wie gegen Liverpools Thiago. Auch sonst eckte Richarlison immer wieder an. Im Frühling warf er eine Rauchpetarde, die nach einem seiner Tore für Everton aufs Feld geworfen wurde, zurück ins Publikum. Nach dem Wechsel zu Tottenham warf er seinem Ex-Klub gegenüber FourFourTwo «mangelnde Ambitionen» vor.
Thiago bekommt die englische Härte zu spüren. Horror-Foul im Derby gegen Everton von Richarlison, der völlig zurecht Rot sieht. Gute Nachricht: Thiago kann wieder mitwirken. @SkySportDE @SPORTBILD pic.twitter.com/S1597wKMBW
— Tobi Altschäffl (@altobelli13) October 17, 2020
Doch abseits des Feldes verfügt Richarlison über eine ganz andere Seite. «Er hat ein sehr reines Herz», sagte Marco Silva, sein Ex-Trainer bei Watford und Everton, zu goal.com. Dies zeigt auch eine Episode, die The Athletic beschreibt. Als er noch in Mineiro spielte und nach seinem ersten Sponsorendeal mit Nike eine Menge Kleidung zugeschickt bekam, ging er damit in die Stadt und verteilte sie an Obdachlose.
Und während der Superstar der brasilianischen Nationalmannschaft, Neymar, im kürzlich zu Ende gegangenen Wahlkampf den Rechtspopulisten Jair Bolsonaro unterstützte, setzt sich Richarlison lieber für andere Themen ein. Beispielsweise den Schutz des Regenwaldes oder den Kampf gegen Rassismus. «Die Erde ist unser grösster Schatz. Sorgen wir dafür, dass wir uns um sie kümmern.» Auch deshalb lieben die Fans der Klubs, bei denen er spielt, den neben dem Platz schüchternen Stürmer. Und auch er sagt, trotz seines Wechsels zu den Spurs, dass er Everton immer noch liebe.
Doch noch grösser ist die Liebe zur «Seleçao». Bereits als Kind war es für ihn das Grösste, wenn sein Land spielte. Und er erinnert sich auch noch an die WM 2006, als Ronaldo das Tor gegen Ghana erzielte. «Wir haben die Strasse bemalt und das Team mit Fahnen angefeuert.» Während der WM in Katar werden andere Kinder die Strasse bemalen und ihn anfeuern, wie er einst sein Idol. Und dann werden sie hoffentlich – genauso wie er vor 16 Jahren – über Tore von «R9» jubeln können. Schliesslich ist Richarlison der beste Torschütze Brasiliens.
bobby firmino: 7 Spiele - 6 tore / 3 assists
richarlison: 9 spiele - 0 tore / 2 assists
einer der beiden fährt mit nach qatar 🤷🏻♂️