Lenas Stimme ist aufbrausend: «Ich würde es nie wieder machen», sagt sie, «auf gar keinen Fall.»
In diesem Augenblick hätte Lena strenggenommen in einem Fussball-Stadion sein müssen. Eigentlich hätte sie einen königsblauen Tracksuit an, ein Euro-2024-Logo auf der Brust. Eigentlich stünde sie jetzt auf dem Spielfeld, noch bevor Stars wie Harry Kane den grünen Rasen betreten. Stattdessen sitzt Lena in ihrer WG und telefoniert mit watson.
Am 14. Juni 2023, genau ein Jahr vor der Eröffnungsfeier der EM, startete die Bewerbungsphase für das Volunteer-Programm. Der Andrang war gross, Menschen aus allen Ecken der Welt haben sich beworben. 146'000 Einsendungen fluteten das Postfach der UEFA, 25'000 Bewerber:innen durften vorsprechen.
Schlussendlich wurden 16'000 Volunteers von der UEFA auserkoren. Darunter auch Lena.
Lena war bei der EM 2024 als «Ceremony Maker» im Einsatz. Ihre Aufgabe ist es, ein Millionenpublikum auf ein Fussball-Spiel einzustimmen. Kurz vor Anpfiff, wenn die Spieler auf den Platz laufen, bewegt sie ein Banner zum Takt der Musik. Jeder Hangriff ist durchchoreografiert.
Die «Ceremony Maker» haben für ihren Auftritt intensiv und lange geprobt. Drei Tage in Folge, jeweils acht Stunden, von 14 Uhr bis 22 Uhr. «Kein Mensch braucht so lange, um eine Choreografie zu lernen», sagt Lena, «ich wusste nach zwei Stunden, was mein Job ist.»
Mehr als 150 Freiwillige waren in den Proben involviert. Darunter Turner:innen und Tänzer:innen vom Deutschen Turnerbund, «Menschen, die innerhalb kürzester Zeit eine Choreo draufhaben», wie Lena anmerkt. Und dennoch: Der Choreograf habe darauf bestanden, die Abläufe einzustudieren – immer und immer wieder. Dabei habe er sich häufig im Ton vergriffen. «Er war unfreundlich und hat herumgebrüllt», erinnert sich Lena.
Die Tage waren langatmig, «die meiste Zeit hast du auf etwas gewartet»: auf dem Trainingsplatz, bei der Generalprobe oder in den Katakomben des Stadions. «Ich habe mich gefühlt wie ein Tier, das in einen Käfig gesteckt wird», erzählt Lena. Während sie auf ihr Kommando gewartet hat, blickten Menschen von der Tribüne auf sie hinunter. «So wie ein Löwe im Zirkus.»
Ihren letzten Einsatz als «Ceremony Maker» hat Lena sausen lassen. Ein schlechtes Gewissen habe sie nicht. Ihre Position sei doppelt besetzt. Jederzeit kann ein anderer Volunteer einspringen. Manche von ihnen kommen sonst gar nicht zum Einsatz.
«Die sass vier Stunden einfach nur rum und hat darauf gewartet, dass ihre Eltern sie wieder abholen», berichtet Lena von einem Mädchen. Sie wurde kurzfristig rekrutiert und sollte für einen Volunteer einspringen. Auf ihren Einsatz hat sie gewartet – vergeblich.
«Ich finde es gar nicht wertschätzend, wenn so mit der Lebenszeit von anderen Menschen umgegangen wird», erwidert Lena. Dabei fusse das Volunteer-Programm auf «Respekt und Wertschätzung». Dies seien die «Grundpfeiler» des Ehrenamts, heisst es laut UEFA, nach watson-Anfrage.
Die 16'000 Volunteers bekleiden ein Ehrenamt. Sie werden nicht bezahlt, zumindest nicht mit Geld. Dafür bekommen sie eine Uniform von Adidas. Sie erhalten die Möglichkeit, an verschiedenen Bildungsangeboten teilzunehmen, die vom Bundesinnenministerium finanziert wurden. Und: es gibt kostenlose Mahlzeiten, oder wie Lena resümiert: «Nudeln mit Tomatensauce.»
Im Vordergrund stehen aber Erfahrungen, «Freundschaften und Verbindungen, die weit über 2024 hinaus bestehen bleiben» und ein unbezahlbares Erlebnis. Denn nur wenige von ihnen dürfen ganz nah ran: an das Spielfeld, an die Spieler und an TV-Persönlichkeiten.
Lena beschleicht das Gefühl, als liessen sich viele blenden. Nicht vom Rampenlicht, das ist den Profis vorbehalten, sondern von dem Gefühl, Teil von etwas Grossem zu sein.
Das sei auch der Grund gewesen, weshalb sich Lena für das Volunteer-Programm beworben hat. Sie wollte «ein Teil davon» und zugleich «nah am Geschehen sein». Doch das Erlebnis hat ein Manko: Wenn die Zeremonie vorbei ist und das Spiel beginnt, muss Lena das Stadion verlassen. Denn ein Ticket hat sie nicht.
Obwohl Volunteers die Spiele nicht vor Ort verfolgen dürfen, wurden einige im Stadion gesichtet. In Stuttgart, als die deutsche Nationalelf im zweiten Gruppenspiel auf Ungarn traf, versuchten Freiwillige «das gemeinsame Fussballerlebnis zu einem persönlichen Stadionerlebnis zu machen», wie es die UEFA in einer Mitteilung geschrieben hat. Dieses Verhalten sei «nicht akzeptabel».
In der Mitteilung, die watson vorliegt und sich an die Volunteers richtet, heisst es weiter:
Warum die Helfer:innen keine Spiele im Stadion verfolgen dürfen, hat die UEFA auf watson-Nachfrage nicht beantwortet. Auch als wir den Verband mit den Vorwürfen von Lena konfrontiert haben, erhielten wir keine Antwort auf unsere Fragen.
Vielmehr lobte sich die UEFA selbst: «Wir sind stolz darauf, dass durch das Volunteer-Programm den Menschen vor Ort die Möglichkeit geboten wird, Teil des wichtigsten und grössten Turniers im europäischen Fussball zu sein.»
Im Jahr 2028, wenn das nächste Turnier in Europa stattfindet, können sich Interessierte erneut für das Volunteer-Programm bewerben. Für Lena ist jedoch sicher: «Ich werde es nie wieder machen.»