Es ist die grosse Frage in den Stunden vor dem Eröffnungsspiel: Wird Captain Lia Wälti rechtzeitig fit oder nicht? Am Tag vor dem Spiel spricht Wälti zu den Medien, ein Indiz für einen Einsatz. Dann das Abschlusstraining. Dick einbandagiertes Knie, dick einbandagierter Oberschenkel. Kann sie so wirklich spielen? Noch eine Nacht der Ungewissheit.
Dann, 75 Minuten vor Anpfiff gegen Norwegen, lässt Trainerin Pia Sundhage die Katze aus dem Sack. Wälti spielt – und zeigt von der ersten Sekunde an, weshalb die Antwort auf die Frage nach ihrem Einsatz so wichtig ist. Weshalb der Moment der Veröffentlichung der Startaufstellung für das erste Spiel so ein spezieller EM-Moment ist.
Es gibt eine Schweizer Nati mit Lia Wälti. Und eine ohne sie. Ohne die Mittelfeldspielerin wären Leistungen wie an dieser EM nicht möglich gewesen. Wälti spielt überragend. Ist omnipräsent. Erobert Bälle, kann diese verarbeiten. Und bereitet das erste Schweizer Tor in einer Art vor, wie es nur ganz wenige können.
Eigentlich, ist es das entscheidende Tor – das 2:0 von Alayah Pilgrim gegen Island. Denn dank diesem reichte gegen Finnland schliesslich ein Unentschieden fürs historische Weiterkommen. Doch etwas bleibt noch mehr in Erinnerung als das Tor: Leila Wandeler, die Assist-Geberin, und Alayah Pilgrim, die Torschützin, jubeln erst mit ihren Mitspielerinnen. Dann schauen sie sich kurz an und tanzen. Strahlend zeigen sie vor den Schweizer Fans eine einstudierte Choreo, die Lebensfreude steht ihnen dabei ins Gesicht geschrieben.
Mit der Aktion tanzten sich die beiden – wortwörtlich – in die Herzen aller Schweizer Fans und sorgen für einen ganz speziellen EM-Moment. Er steht sinnbildlich für den Schwung, den die jungen Spielerinnen in die Nati bringen. Für den Teamgeist, die gute Stimmung untereinander. Und, dank dem Erklärvideo, das Pilgrim und Wandeler veröffentlichten, brachten sie am Freitagnachmittag den gesamten Fanmarsch zum tanzen.
Das Ausscheiden liegt in der Luft. Im dritten EM-Gruppenspiel gegen Finnland liegen die Schweizerinnen 0:1 zurück – sie wären damit aus dem Heimturnier ausgeschieden. Doch die Nati rennt unermüdlich an. Géraldine Reuteler bringt den Ball flach in den Strafraum, dort steht Riola Xhemaili goldrichtig und schiebt ihn über die Linie. Das Stade de Genève verwandelt sich in ein absolutes Tollhaus – es explodiert vor Begeisterung.
Als der Ball im Netz zappelt, stürmt Xhemaili auf die Fans zu. Smilla Vallotto, Leila Wandeler und Lia Wälti folgen ihr – und bald das ganze Team. Spielerinnen und Fans jubeln über das späte Tor, die riesige Erleichterung – und den historischen ersten Viertelfinaleinzug der Schweizer Frauen-Nati. Noch minutenlang feiern die Schweizerinnen und Schweizer im Stadion. Die Freude ist bei allen Beteiligten riesig. Dieser Moment zeigt: Fussball ist pure Emotion – ganz gleich, ob ihn Männer oder Frauen spielen.
Der Druck im Vorfeld war riesig. Viel wurde von den Schweizerinnen an ihrem Heimturnier erwartet – insbesondere im Eröffnungsspiel gegen Norwegen. Die Vorzeichen standen schlecht. Der Auftritt der Schweizerinnen? Mutig, bissig, kämpferisch.
In der 13. Minute kommt ein Steilpass in den Lauf von Norwegens Stürmerstar Ada Hegerberg. Noelle Maritz packt eine Monstergrätsche aus – und verhindert die frühe Topchance für Norwegen. Mit ihrer Aktion signalisiert sie: Die Schweizerinnen sind bereit für einen historischen Auftritt.
Völlig euphorisiert von der beeindruckenden Stimmung im Basler St. Jakob-Park spielen sie in der Folge ihre beste Halbzeit seit Menschengedenken. Sie treten couragiert auf und kombinieren mit Tempo über die hochstehenden Flügel, wo Iman Beney und Nadine Riesen immer wieder für Gefahr sorgen. In der 28. Minute ist es dann so weit: Riesen trifft für die Schweiz zum viel umjubelten 1:0.
Auch wenn es am Ende nicht ganz zum Sieg reicht: Mit diesem leidenschaftlichen Auftritt spielen sich die Schweizerinnen direkt in die Herzen eines ganzen Landes. Und ein bisschen hilft es vielleicht sogar, dass die Zeit schindenden Norwegerinnen in der Schlussphase alle Schweizerinnen und Schweizer etwas zur Weissglut treiben.
In der 88 Minute tobt das Wankdorf-Stadion. So, als hätte die Schweiz sich gerade in den EM-Halbfinal geschossen. Doch ein Blick auf den Spielstand zeigt: Spanien führt noch immer mit 2:0. Wer die über 29'000 Fans so zum ausflippen brachte? Es war Livia Peng.
Die Schweizer Goalie hielt den spanischen Elfmeter, geschossen von der zweifachen Weltfussballerin Alexia Putellas, bravourös. «Ich habe mich natürlich auf ein allfälliges Elfmeterschiessen vorbereitet und die Spielerinnen deswegen nochmals genauer analysiert. Ich wusste, ich muss einfach voll in die Ecke gehen», sagt Peng später.
Sie selbst mag es zwar nicht hören, ist mehr enttäuscht als glücklich über ihre Leistung, aber: Unweigerlich sorgt die Schweizer Schlussfrau für einen schönen Abschluss eines harten Kampfs gegen Spanien. Dank Peng durften die Spielerinnen eine Atmosphäre erleben, wie sie sie nicht kannten. Und eine, die sie so schnell auch nicht mehr vergessen werden.
Ein rotes Meer von Fans im Stadion. Volle Public Viewings überall. Und eine riesige Euphorie im ganzen Land. Die Schweiz ist während drei Wochen im (Frauen-)Fussballfieber. Die Nati spielt sich in die Herzen von Schweizerinnen und Schweizern.
Doch sind wir nur eine Bubble? Wie sehr hat unsere Welle der Begeisterung auch andere erfasst? Nun, vom Fieber lassen sich auch die anderen anstecken. So schwärmt Spaniens Superstar Aitana Bonmatí nach dem Viertelfinal: «Ich gratuliere der Schweiz und ihren Menschen. Die Stimmung ist fantastisch. Das sind Momente, die wir immer im Herzen tragen.»
Bonmatí und ihre Kolleginnen wissen, wem sie diese wunderbare Stimmung im EM-Land verdanken: Der Schweizer Nati, welche die Menschen begeistert. Und deshalb stehen die Spanierinnen nach ihrem Viertelfinalsieg Spalier, als die geschlagenen Schweizerinnen den Wankdorf-Rasen verlassen. Diese Geste des Respekts von Seiten der Weltmeisterinnen – ein Schweizer EM-Moment für die Ewigkeit.
Überall sieht man die Fans am Spieltag. Klein und gross, allesamt in roten oder weissen Trikots. Wälti, Reuteler, Beney steht wahlweise auf dem Rücken. Die Euphorie der Fans in der Schweiz ist zu spüren. Am Tag des EM-Viertelfinales findet ein Fanmarsch mit rund 25'000 Teilnehmenden statt – Rekord, bei weitem!
Doch damit nicht genug. Im ganzen Land werden Public Viewings veranstaltet. Das grösste am Gurtenfestival, das seit Mittwoch stattfindet. Vor einer riesigen Leinwand versammeln sich die Festivalbesucherinnen und Besucher, um mit den Schweizerinnen mitzufiebern. Noch nie wurden EM-Spiele am Gurten gezeigt – ein Beweis dafür, wie viel die Nati in den vergangenen Wochen bewegt hat.
Den letzten unvergesslichen EM-Moment erleben die Schweizerinnen dann aber wohl am Samstagnachmittag. Im regnerischen Bern werden sie von zahlreichen Fans in Empfang genommen und gefeiert. Die Natistars tanzen, strahlen und bedanken sich für die Unterstützung. Ihnen steht ins Gesicht geschrieben, wie überwältigt sie von der Szenerie sind. Es ist ein Moment, der ihnen für immer bleibt. (riz/aargauerzeitung.ch)