Nia Künzer bemüht sich seit Wochen darum, die Erwartungen tief zu halten. Und so passt es, dass die deutsche Sportdirektorin vor dem EM-Halbfinal gegen Spanien über das gegnerische Team ins Schwärmen gerät. Die «ungeheure Passqualität» sei gepaart mit «einer gewissen Abgezocktheit», sagt sie. Doch dann kommt auch sie nicht heraus aus dem neugewonnenen Optimismus. «Wir können die Spanierinnen packen.»
Im Sommer 2023 analysierte Künzer als Fernsehexpertin bei der ARD noch fassungslos das Vorrundenaus bei der WM. Als Topfavorit reiste Deutschland mit grosser Erwartung nach Australien – und scheiterte früh an Marokko, Kolumbien und Südkorea. Viel erinnerte an die WM der Männer 2018 und 2022. Der deutsche Fussball lag am Boden.
Künzer war daher bemüht, die Fehler von 2023 zu vermeiden, als die Vorrunde «gewaltig unterschätzt» worden war. Sie forderte «Demut und Respekt» vor jedem Spiel. Als das Team vor der EM in der Schweiz die Niederlande (4:0) und Österreich (6:0) in der Nations League deklassierte, träumten Medien bereits vom Titel.
Doch Künzer trat auf die Euphoriebremse. Als sie mit ihrem Golden Goal Deutschland 2003 zum ersten Weltmeistertitel schoss, waren die DFB-Frauen auf dem Höhepunkt. Zwischen 1989 und 2013 gewannen sie acht EM-Titel und zweimal die WM. Das WM-Aus 2023 zeigte jedoch: Die Zeiten haben sich geändert. Dies offenbarte sich auch, als die Deutschen bei dieser EM das Gruppenspiel gegen Schweden 1:4 verloren.
Was folgte, war aber eine unglaubliche Leistung gegen Frankreich mit den sogenannten deutschen Tugenden, die Fussballexperte Matthias Sammer im «Kicker»-Interview zuletzt vermisst hatte. Beim EM-Viertelfinal gegen Frankreich rannte sich aber Stürmerin Giovanna Hoffmann die Seele aus dem Leib, warf sich Mittelfeldspielerin Sjoeke Nüsken in jeden Zweikampf und bewies Torhüterin Ann-Katrin Berger grosse Mentalität. Schon in der 13. Minute erhielt Kathrin Hendrich nach einem Zopf-Zug einen Platzverweis. Die Deutschen überstanden die Spielzeit inklusive Verlängerung dennoch und siegten im Penaltyschiessen.
Gegen Spanien sind die Deutschen im Halbfinal Aussenseiterinnen, wenn man die bisherigen Turnierleistungen betrachtet. Die Spanierinnen wurden Gruppensiegerinnen, gewannen den Viertelfinal gegen die Schweiz souverän. In jedem Auftritt vermittelten sie das Gefühl, dass das Team mit ihren Superstars rund um die zweifachen Weltfussballerinnen Aitana Bonmatì und Alexia Putellas einen Gang höher schalten könnte, wenn es denn sein müsste.
Doch die Spanierinnen fürchten sich vor den Halbfinalgegnerinnen. Die DFB-Frauen sind für «La Furia Roja» die «Bestia Negra», die schwarze Bestie. In acht Direktduellen hat Spanien noch nie gewonnen. Deutschland siegte unter anderem im Bronzespiel bei Olympia 2024 sowie in den Gruppenspielen der EM 2022 und WM 2019. Trotz mehr Ballbesitz fanden die Spanierinnen kein Mittel gegen Deutschlands robuste Spielweise.
Auf die deutschen Tugenden werden sie auch im EM-Halbfinal im Letzigrund setzen. Dabei fehlen nach den verletzten Giulia Gwinn und Sarai Linder auch die gesperrten Kathrin Hendrich und Sjoeke Nüsken. «Was wir bewiesen haben, ist, dass wir Rote Karten, Ausfälle, Verletzungen kompensieren können», stellt Nia Künzer fest. «Es hat sich herumgesprochen, wie unangenehm wir zu bespielen sind.» Auch sie, die Deutschland einst mit ihrem Golden Goal zum WM-Titel schoss, kann sich der neuen Euphorie nicht entziehen. (riz/aargauerzeitung.ch)