Mit der ersten Berührung lupft Kevin De Bruyne den Ball mit dem Aussenrist über den grätschenden Gegenspieler, um ihn dann sofort zwischen drei Verteidigern hindurch querzulegen, sodass Thorgan Hazard frei stehend nur noch einschieben muss. Das Tor im Gruppenspiel der EM im letzten Jahr gegen Dänemark steht sinnbildlich für die Übersicht, die De Bruyne ausmacht. Der Belgier sieht Pässe, die nur wenige andere Spieler sehen. Das brachte ihm den Spitznamen «Assist-König» ein.
Dass De Bruyne später auch noch den 2:1-Siegtreffer erzielte, zeigt, dass er Tore nicht nur vorbereiten, sondern auch selbst vollstrecken kann. In der Geschichte des belgischen Nationalteams steht er mit 25 Treffern und 46 Assists in Sachen Skorerpunkte auf dem zweiten Platz – direkt hinter Rekordtorschütze Romelu Lukaku (68 Tore). Bei den Assists macht De Bruyne keiner etwas vor.
Er ist auch der Hauptgrund, dass Belgien erneut zum erweiterten Favoritenkreis zählt. Seit 2014 werden die «Roten Teufel» an jedem WM- und EM-Turnier genannt, wenn es um Geheimfavoriten geht. Immer wieder ist von einer «goldenen Generation» die Rede. Doch die Zeit dieser bisher «unvergoldeten Generation» geht langsam zu Ende. Eden Hazard, Axel Witsel, Jan Vertonghen, Vincent Kompany oder auch Dries Mertens sind entweder zurückgetreten oder über ihren Zenit hinaus.
Selbst auf Lukaku ist nicht mehr so sehr Verlass wie beispielsweise an der EM 2021, als er in fünf Spielen vier Tore erzielte. In den letzten zwölf Monaten kam er im Nationalteam nur zu einem Einsatz über 27 Minuten. Ansonsten verhinderten Verletzungen und ein Formtief eine Nominierung des 29-Jährigen. Immerhin kehrte er zuletzt bei Inter Mailand von einer langwierigen Verletzung zurück.
De Bruyne hingegen gehört weiterhin zu den besten Fussballern der Welt. Bei der Vergabe des Ballon d'Or 2022 wurde er als erster Belgier überhaupt unter die besten 3 gewählt. Der 31-Jährige ist die letzte Chance für diese Generation Belgiens. Dass er einmal der Anführer eines Teams, ja einer Generation, sein sollte, schien vor einigen Jahren beinahe undenkbar. De Bruyne war immer ein ruhiger und zurückhaltender Mensch, wie er bei The Players' Tribune selbst einmal schrieb. Er leitete den Text ein, indem er zugab: «Über mich selbst zu sprechen, ist so ziemlich das Schwierigste, was ich mir vorstellen kann.»
Auf dem Fussballfeld sei er zwar leicht reizbar gewesen, «aber daneben war ich sehr introvertiert». Dies war nicht immer zu seinem Vorteil – doch es führte auch dazu, dass er überhaupt so erfolgreich wurde. Als er als Jugendlicher bei Genk spielte, lebte er ein Jahr lang bei einer Gastfamilie, da sein Zuhause zwei Stunden entfernt lag. Nach dem Schuljahr verabschiedete sich diese von ihm mit den Worten: «Bis nach den Ferien.» Aber als er nach Hause kam, erklärte ihm seine Mutter weinend, dass die Gastfamilie ihn nicht erneut aufnehmen wolle. «Sie wollen dich nicht mehr, weil du so bist, wie du bist. Sie haben gesagt, dass du zu ruhig seist. Sie könnten nicht mit dir interagieren und du seist zu schwierig.»
De Bruyne nahm dies persönlich und es sei auch nicht förderlich für seine Karriere gewesen, weil er eben kein Star gewesen sei, und der Klub nun dachte, er sei problematisch, wie er schreibt. Die Worte blieben hängen und an jenem Tag sagte er sich: «Alles wird gut, ich werde bald bei den Profis spielen. Egal, was passiert, ich werde nicht als Versager nach Hause kommen.»
Er nutzte den Fakt, abgelehnt worden zu sein, nicht mehr gewollt zu werden, als Antrieb. Im ersten Spiel nach seiner Rückkehr nach Genk erzielte er fünf Tore für die zweite Mannschaft – in einer Halbzeit. Bald darauf war er bei den Profis, so wie er es sich vorgenommen hatte. Doch es sollte nicht das einzige Mal bleiben, dass er abgelehnt wurde.
Kurz vor seinem 18. Geburtstag debütierte er bei den Profis und setzte sich auch dort schnell durch. 2012 folgte der Wechsel zum FC Chelsea, woraufhin er direkt nach Bremen verliehen wurde. Dort begeisterte er die Fans mit zehn Toren und neun Vorlagen in 33 Spielen. «Die Saison lief grossartig», findet De Bruyne. Unter anderem Borussia Dortmund wollte ihn danach verpflichten, doch Chelsea-Coach José Mourinho sprach sich gegen einen Wechsel aus und versicherte ihm, dass er Teil des Teams sein werde. Nur bekam er kaum Chancen. Nach drei Einsätzen zu Beginn der Saison wurde er aus dem Kader gestrichen und im Winter verkauft.
Das war im Winter 2014. Von da an sollte der raketenhafte Aufstieg erst losgehen. In anderthalb Jahren beim VfL Wolfsburg eroberte er die Liga im Flug. Der Lohn war der Wechsel zu Manchester City, wo er ebenfalls von Beginn an überzeugte. Unter Trainer Pep Guardiola, der 2016 zu den «Citizens» kam, blühte er erst recht auf. Mehrmals führte er die Liste der besten Vorlagengeber an – teilweise mit weitem Abstand. Zweimal wurde er zum besten Spieler der Premier-League-Saison gewählt. Mit dem Trainer eint De Bruyne die Mentalität, mit der sie diesen Sport angehen. «Fussball ist meine Obsession», sagt De Bruyne.
Das dürfte einer der Gründe sein, weshalb De Bruyne zu Guardiolas absoluten Lieblingsspielern gehört. Im ersten gemeinsamen Gespräch sagte der Spanier: «Du kannst locker einer der besten fünf Spieler der Welt sein.» Doch dieses Talent verpflichtet. So sagte Guardiola noch nach dem Sieg am 22. Oktober gegen Brighton, bei dem der Belgier ein wichtiges Tor erzielte, dass er mehr von De Bruyne verlange. «Er könnte besser sein, er spielt nicht auf seinem höchsten Level.»
Schon eine Woche später war die Kritik vergessen. Den Sieg gegen Leicester hatte Manchester City einem traumhaft getretenen Freistoss des Mittelfeldspielers zu verdanken. «Ich will diesen Kevin und wir brauchen diesen Kevin», sagte Guardiola. Tore schiessen und Vorlagen geben könne er blind. «Doch er muss das Spiel auch darüber hinaus beeinflussen, und das hat er getan.»
So dürften sie auch in Belgien aufatmen. Denn ohne einen Kevin De Bruyne in absoluter Höchstform wird das Team von Roberto Martinez nichts mit dem Titel zu tun haben – und die Zeit der «goldenen Generation» weiterhin ungekrönt ihrem Ende entgegensteuern.