«Gibt es das Abseits?» Das Trainingsspiel auf dem kleinen Kunstrasenplatz in Romanshorn ist in vollem Gang, allerdings sind die Regeln noch nicht allen klar.
Aber eigentlich ist das Nebensache, denn dass es im Spiel sieben gegen sieben auf dem kleinen Feld kaum Fesseln und Leitplanken gibt, ist die Basis. Die Partie ist wild. Es fallen viele Tore. Und der eine oder andere Treffer ist spektakulär schön herausgespielt.
Carlo Zanetti steht am Spielfeldrand. Er hat sich soeben ausgewechselt. Vor fünfeinhalb Jahren gründete der Kanti-Lehrer den Verein «Lake Constance Football» mit dem Ziel, Kindern und Jugendlichen dank Strassenfussball eine niederschwellige, interkulturelle Begegnungsplattform zu bieten.
Im Thurgau hat sich «Lake Constance Football» bereits einen Namen gemacht. Vor bald drei Jahren veranstaltete Zanetti ein Turnier auf einer Fähre, die den Bodensee überquerte. Und er organisierte mehrere Anlässe in der Tiefgarage einer Migros. Zanetti und sein Team wurden für ihre Bemühungen schon mit einem Förderpreis des Thurgauer Fussballverbands ausgezeichnet.
Nun hat sein Verein eine neue Dimension erreicht. «Lake Constance Football» bestreitet vom 4. bis 9. Juni die Kleinfeld-WM in den USA. «In den vergangenen fünf Jahren war es Sozialarbeit, Jugendarbeit, ein soziokulturelles Projekt. Nun haben sich daraus einige Äste entwickelt und die Teilnahme an der Kleinfeld-WM ist ein erster Höhepunkt», so der 31-jährige Zanetti.
Die Thurgauer haben keine klassische Qualifikation bestritten, keine Turniere auf dem ganzen Kontinent. Sie schienen in keiner Tabelle auf. Es ist die Eigenart dieser Veranstaltung, dass sich Teams bewerben müssen.
So musste der Verein eine Kaderliste einreichen. Zudem wurde auch der Social-Media-Auftritt bewertet. Die Titelkämpfe auf dem Kleinfeld, mit anderen Regeln als im klassischen Fussball, sollen vor allem im Internet Streaminghits werden und die Generation TikTok ansprechen. Zudem wird «Blue Zoom» die Spiele übertragen.
Zanetti hat für die Kleinfeld-WM ein Team aus regionalen Fussballern zusammengestellt, die teilweise über Profierfahrung verfügen. Zwei- bis viermal im Monat treffen sie sich zum Training. Einige von ihnen spielen Futsal, die internationale Hallenfussballvariante der Fifa auf einem grösseren Feld. Die Kleinfeld-WM wird unabhängig organisiert, hat also keinen Bezug zu Verbänden oder Klubs.
Dem Team von «Lake Constance Football» gehört auch Christian Lang an, beruflich als Studienleiter CAS Sportmanagement an der Universität St.Gallen engagiert. Der 32-jährige Lang beschäftigt sich schon länger mit neuen Fussballformen, mit der Entwicklung und veränderten Ansprüchen der jungen Generation. Er sagt:
Zuletzt machte in Deutschland die Baller- und die Icon-League Furore, eine Hallenfussball-Meisterschaft auf dem Kleinfeld, die Anfang 2024 von Lukas Podolski, Mats Hummels (Baller) und Toni Kroos (Icon) mit Streamern gegründet wurde.
Die meisten Spieler sind Amateure. Die Regeln unterscheiden sich von den «normalen» Leitlinien, um den Spielen mehr Dynamik und Unterhaltung zu verleihen. Die Baller-Liga ist die Abkehr vom klassischen, eineinhalbstündigen Grossfeldformat. So dauert eine Partie beispielsweise zweimal 15 Minuten.
Lang sagt, er glaube nicht, dass der traditionelle Fussball verschwinde.«Es ist ein anderes Geschäftsmodell. Ein amerikanisches Projekt, wo man den Sport als Entertainment versteht.» Also weniger Langeweile über 90 Minuten, alles schneller und dichter.
Für die Kleinfeld-WM, die in Cary im Bundesstaat North Carolina unter freiem Himmel ausgetragen wird, waren nur vier Plätze frei, weil die Teams, die sich im vergangenen Jahr beteiligten, ein Vorkaufsrecht erhielten. «Wir haben einen langen Prozess durchlaufen und uns gegen über 150 Mannschaften durchgesetzt», so Zanetti.
«Lake Constance Football» ist der einzige Schweizer Vertreter. Aber die Teilnahme hat ihren Preis: Stolze 50'000 Franken musste der Verein an die WM-Veranstalter überweisen. Die Spieler haben diesen Betrag privat gestemmt, doch es werden weitere finanzielle Herausforderungen warten. Zanetti ist überzeugt, das Geld zusammenzubekommen, weil das Projekt eine «sehr spannende Plattform für Sponsoren bietet».
Das Ziel von Zanetti ist es, in der Schweiz auch eine der Baller-Liga ähnliche Meisterschaft einzuführen – und eine Kleinfeld-WM zu organisieren. Am liebsten im Zürcher Hallenstadion.
Im Juni wollen die Thurgauer in den USA weiter Erfahrungen sammeln. Gut möglich, dass die Schweizer dann auch auf Fussball-Persönlichkeiten treffen. In früheren Jahren beteiligten sich ehemalige Profis wie der Argentinier Sergio Agüero oder der Italiener Marco Materazzi an der Kleinfeld-WM.
Zanetti und sein Team versuchen, den Klub «Lake Constance Football» mit Nebenprojekten zu finanzieren: Etwa mit einem Fitnesszentrum in Romanshorn, das bald eröffnet wird, oder einem eigenen Kokosnusswasser. Hinzu kommt ein Kids-Camp im April in Romanshorn, das für alle erschwinglich sein wird. Auch dann wird die Abseitsregel nicht im Vordergrund stehen. (riz/aargauerzeitung.ch)