Das Bild zeigt Alisha Lehmann, die sich auf dem Spielfeld selber filmt. Dazu schreibt Laurant Favre auf Twitter: «Alisha Lehmann musste ihren Instagram-Livefeed unterbrechen, um etwa 20 Minuten lang bei Schweiz gegen Neuseeland zu spielen.»
Favre ist Sportchef der Westschweizer Zeitung «Le Temps». Mit seinem provokativen Eintrag löst er auf der Plattform, die neu X heisst, eine grosse Debatte aus.
Alisha Lehmann a du interrompre son live Instagram pour jouer une vingtaine de minutes de #SUINZL.
— Laurent Favre (@LaurentFavre) July 30, 2023
📷 REUTERS/Molly Darlington pic.twitter.com/MvdWKChrOW
Kaum ist die Partie im Stadion in Dunedin abgepfiffen und die Schweiz nach einem 0:0 gegen Neuseeland für das WM-Achtelfinal qualifiziert, schon hat Lehmann das Smartphone in der Hand. Für Kritiker wie Favre ist es ein gefundenes Fressen, die Nationalspielerin dafür zu kritisieren.
Tatsächlich muss sich Lehmann im Rahmen ihrer Fussballerinnen-Karriere immer wieder für ihre Aktivität in den sozialen Medien rechtfertigen. Sie pflegt dann stets zu erzählen: «Ich benötige fast gar keine Zeit für Instagram.» Als sie im Februar nach einer Pause wieder ins Nationalteam zurückkehrt, sagt die 24-jährige Bernerin: «Ich bin zu 100 Prozent Fussballerin. Nur, damit das klar ist.»
Doch in den sozialen Medien ist Lehmann erfolgreicher, als dies für Fussballerinnen auf ihrem Niveau üblich wäre. Auf Instagram folgen ihr 14,2 Millionen, auf TikTok 9,4 Millionen Menschen – Tendenz steigend. Keine andere Akteurin an dieser WM vereint annähernd so viele Fans. Nicht nur das: Lehmann lässt auch alle männlichen Schweizer Fussball-Nationalspieler hinter sich, auch Roger Federer kann nicht mithalten. Lediglich Ivan Rakitic hat auf Instagram mit 17,3 Millionen noch mehr Fans als Lehmann.
Das Bild aber, das die Debatte auslöst, ist nicht etwa deshalb entstanden, weil sich die Schweizer Nationalspielerin für ihre eigenen Kanäle gefilmt hätte. Stattdessen entstand daraus ein Reel, das das Schweizer Frauen-Nati-Team auf Instagram teilt. Der Titel dazu lautet: «Point of View: You're qualified for the Round of 16.» Im Video filmt Lehmann sich und andere Nationalspielerinnen dabei, wie sie sich noch auf dem Spielfeld nach dem Einzug in den Achtelfinal freuen.
Somit soll der Schweizerische Fussballverband in dieser Situation wohl genau gewusst haben, welche Spielerin sich am besten dazu eignet, für die sozialen Medien ein solches Video aufzunehmen. Natürlich kann auch das Frauen-Nati-Team, das auf Instagram ein bisschen mehr als 71'000 Follower hat, von der enormen Reichweite Alisha Lehmanns profitieren. Möglicherweise will sich der Verband dafür auch für Werbepartner weiterhin attraktiv halten.
Instagram wird dem SFV gerade in Bezug auf die Frauen-Nati immer wichtiger. Das zeigt etwa die Tatsache, dass die grossen Schweizer Tageszeitungen bei einem kleinen Rundgang durch das Hotel aus Zeitgründen von keiner Spielerin begleitet werden konnten, obwohl dies der ausdrückliche Wunsch der Journalisten gewesen war. Für ein eigenes Instagram-Reel aber hatte mit Ana-Maria Crnogorcevic sogar die Rekordnationalspielerin Zeit, eine kleine Hotelführung zu geben.
Zurück aber zu Alisha Lehmann, bei der es einmal mehr eine Debatte darüber gibt, ob sie mehr Fussballerin als Influencerin ist. In den drei WM-Gruppenspielen in Neuseeland gehört ihr eine Reservistenrolle. Insgesamt ist sie knapp eine Halbzeit lang auf dem Platz gestanden. Zweimal wurde die schnelle Flügelspielerin für die letzten zwanzig Minuten eingewechselt, in der Partie gegen Norwegen blieb sie auf der Bank sitzen.
Positiv in Erscheinung treten konnte sie bisher nicht. Gegen die Philippinen kam sie zu einer Kopfballchance, die sie vergeben hat. Später stellte sie in einer Medienrunde fest, dass das Kopfballspiel nicht zu ihren Stärken gehört.
Obwohl sie leistungsmässig nicht zu den besten Schweizerinnen zählt, ist Lehmann mit Abstand die bekannteste Schweizer Fussballerin. Das zeigt sich nicht nur in den sozialen Medien, sondern auch vor Ort an der Weltmeisterschaft. Bei ihrer Einwechslung in der 71. Minute gegen die Gastgeberinnen aus Neuseeland wird es im Stadion so laut wie sonst nur bei einer Torchance. Und bei der Partie der Schweizerinnen gegen Norwegen in Hamilton sind viele «Alisha!»-Rufe zu hören, als sie sich kurzzeitig einläuft.
Nach jener Partie posiert sie noch fast dreissig Minuten lang für Selfies, obwohl sie gar nicht zum Einsatz gekommen ist. Dazu sagt sie: «Die Fans kommen extra ins Stadion, da möchte ich ihnen gerne etwas zurückgeben.» Auf Instagram teilt sie nach dem letzten Gruppenspiel eine Story, die festhält, wie sie einem weiblichen Fan ihr Trikot vermacht hat. Diese hatte mit einem Pappschild auf ihren Wunsch aufmerksam gemacht.
Lehmann findet, dass diese Nähe zu den Fans ein grosser Vorteil des Frauenfussballs gegenüber dem Männerfussball sein kann. «In der Premier League zum Beispiel kann man keine Selfies mehr machen mit den Spielern. Bei uns ist das aber noch möglich», sagt sie.
Die stets perfekt gestylte Fussballerin hat im Nationalteam einen guten Ruf, sie gilt als umgängliche Teamspielerin ohne grosse Allüren. Besonders gut versteht sie sich mit Amira Arfoui von Bayer Leverkusen, die an dieser WM noch nie zum Einsatz gekommen ist. Lehmann und Arfoui kennen sich seit sie zwölf Jahre alt sind, haben bereits bei den YB-Junioren gemeinsam gekickt.
Wird sie nach ihrem Beruf gefragt, dann betont Lehmann immer, dass ihr Fokus ganz auf dem Fussball liege. Doch die beiden Zweige dürften einander beflügelt haben. Durch den Fussball konnte sie auf Instagram erst erfolgreich werden, durch Instagram macht sie im Fussball aber eine noch grössere Karriere. Bei Aston Villa soll sie laut «Sonntags-Zeitung» 160'000 Pfund jährlich verdienen. Stimmt diese Zahl, dann gehört sie zu den absoluten Topverdienerinnen des Nationalteams, obwohl sie leistungsmässig nicht zu den Stars gehört. Nun kommt durch die Weltmeisterschaft ein weiterer Zahltag dazu: Durch die Achtelfinal-Qualifikation erhält jede Schweizer Nationalspielerin von der FIFA eine Prämie von 60'000 US-Dollar.