Das Titelrennen in der Bundesliga steuert auf den nächsten Zweikampf zu. Nachdem Borussia Dortmund in der Vorsaison die Bayern bis zur letzten Minute der letzten Runde forderte, wird der Rekordmeister nun von Bayer Leverkusen herausgefordert.
Sollte Bayern das Nachholspiel gegen Union Berlin gewinnen, liegt es einen Punkt hinter dem Tabellenführer zurück. Der drittplatzierte Aussenseiter VfB Stuttgart nimmt die Rückrunde mit bereits acht Zählern Rückstand auf Leverkusen in Angriff und der enttäuschende BVB spielt bereits im Winter keine Rolle mehr im Titelrennen.
Sollte es Bayer 04 durchziehen, gingen zwei legendäre Serien zu Ende. Erstens Deutschland erhielte erstmals nach elf Saisons (!) in Folge wieder einmal einen anderen Meister als die Roten aus München. Und zweitens würde der Klub seinen Übernamen «Vizekusen» tilgen.
Diesen erhielt er vor mehr als zwei Jahrzehnten. Damals, zwischen 1997 und 2002, schlossen die Rheinländer gleich vier Mal eine Saison als Zweiter ab.
Episch war der Sommer 2002, als auch die Finals von Champions League und DFB-Pokal verloren wurden. Fünf Leverkusener (Michael Ballack, Bernd Schneider, Oliver Neuville, Carsten Ramelow und Hans Jörg Butt) wurden ausserdem mit Deutschland «nur» Vize-Weltmeister. «Wir mussten ihn anketten an der Bar, sonst wär er runtergfallen», sagte Neuvilles Freund Paul Schönwetter über diesen Sommer der verpassten Titel, «da hat er wirklich Freunde gebraucht.»
Tempi passati. «Ich glaube nicht, dass neue Spieler wie Victor Boniface oder Alejandro Grimaldo überhaupt wissen, was ‹Vizekusen› ist», meinte Ex-Leverkusen-Torhüter René Adler, heute TV-Experte. Zudem wisse der Trainer Xabi Alonso, wie man Titel gewinne.
Der Weltmeister von 2010 übernahm den Werksklub im Oktober 2022 vom Schweizer Gerardo Seoane, unter dem das Team katastrophal in die Saison gestartet war, und führte es noch auf Rang sechs. Alonso etablierte ein 3-4-2-1-System, an dem er festhält und dessen Positionen er, wann immer es geht, mit den gleichen Spielern besetzt. Wozu etwas ändern, wenn es so gut läuft?
Die Wechsel machte Leverkusen schon vor der Saison, wo es auf dem Transfermarkt mehrere Volltreffer landete. Der neue Stürmer Boniface schoss in der Bundesliga zehn Tore, dem Borussia Mönchengladbach abgeluchsten Jonas Hofmann gelangen fünf Treffer und sieben Vorlagen. Der stürmende Linksverteidiger Grimaldo ist die Entdeckung der Saison, sieben Tore und sechs Vorlagen lautet die Bilanz des Spaniers.
Als Regisseur erhält der Schweizer Nationalmannschafts-Captain Granit Xhaka überragende Zensuren. Er kam von Arsenal und gibt zu: «Dass es auf Anhieb so gut läuft, hätte wohl kaum jemand erwartet.» Im Gespräch mit Keystone-SDA sagte Xhaka, dass er keinen besseren Entscheid hätte fällen können, als zu Bayer 04 zu wechseln. «Als ich im Sommer ein erstes Mal in die Garderobe gelaufen bin, spürte ich sofort besondere Schwingungen – das Miteinander, den Respekt, den Spass, die Seriosität, ein unglaublich gutes Umfeld.»
Zu den Neuen gesellen sich die Spieler, die schon da waren, etwa der spektakuläre Florian Wirtz. Die Offensivkraft glänzt mit spielerischer Klasse und gehört schon mit 20 Jahren zur Weltklasse. Neben Xhaka hält Exequiel Palacios, ein argentinischer Weltmeister, Wirtz und Hofmann den Rücken frei. Jeremie Frimpong beackert als Grimaldos Pendant schnell und dribbelstark die rechte Seite.
Sie alle sind gesetzt, wie auch Jonathan Tah, Odilon Kossounou und Edmond Tapsoba, die drei Innenverteidiger, die sich kaum Fehler erlauben. Trainer Alonso setzt auf diese eingespielte Stammelf mit dem Routinier Lukas Hradecky im Tor.
Doch nun ist der frühere Mittelfeldspieler der Sonderklasse zu Umstellungen gezwungen. Boniface verletzte sich im Adduktorenbereich und fällt drei Monate aus. Tapsoba, Kossonou und der in beinahe jeder Partie eingewechselte Amine Adli sind mit ihren Nationalteams am Afrika-Cup beschäftigt, der am Samstag in der Elfenbeinküste beginnt.
Als eine «weitere Challenge für uns alle» bezeichnet Xhaka diese Situation und fordert: «Jeder muss noch vier bis fünf Prozent mehr geben.» Es zahle sich nun aus, dass Alonso sich auch intensiv um diejenigen kümmere, die gerade nur Ersatz seien. «Spieler mit Joker-Rollen spüren diese Wertschätzung und gehen entsprechend an die Grenzen.» Überhaupt schwärmt der 31-Jährige vom Spanier. «Er steht für den unglaublich grossen Hunger. Er lebt für den Fussball, er gibt alles, er macht uns besser. Für einen solchen Trainer geht ein Team dann eben ohne ein Zögern durchs Feuer.»
Der verletzte Boniface wird zum Start der Rückrunde durch Patrik Schick ersetzt. Der Tscheche war lange verletzt, stand im letzten Spiel vor Weihnachten erstmals in der Startelf und erzielte gleich drei Tore. In der Abwehr wird Josip Stanisic aufrücken, bislang Stammspieler in der Europa League und dort überzeugend. Der 23-Jährige ist ausgeliehen – vom ärgsten Konkurrenten Bayern München.
Die Münchner um ihren Starstürmer Harry Kane (21 Tore in 15 Spielen!) sind es, die in der Liga gemeinsam mit Leverkusen den Ton angeben. Egal, ob geschossene Tore oder Gegentore, ob Ballbesitz, raumgewinnende Pässe in der Offensive, Expected Goals oder gewonnene Kopfballduelle: beinahe in jeder Statistik findet man Bayer und Bayern auf den Plätzen eins und zwei.
Und so wird bereits jetzt dem Gipfeltreffen in Leverkusen am 10. Februar entgegengefiebert. «Diese Partie wird entscheidend sein», blickt Xhaka voraus. «Da können wir uns die Moral, das Selbstvertrauen für den Rest der Saison holen. Gegen die Bayern spielen wir um alles, um einen Meilenstein.»
Es deutet vieles darauf hin, dass die Meisterschale Mitte Mai um das Wort «Bayer» ergänzt wird. Die Frage ist bloss, ob der Graveur noch ein «n» hinzufügt oder nicht.
Und so langsam ist es wirklich Zeit, diesen Kosenamen "Vize..." endlich loszuwerden.