Granit Xhaka ist die faszinierendste Persönlichkeit im Kreis der Nationalmannschaft, das dann schon. Kein Schweizer bedient die Pole so sehr, keiner hat einen solch facettenreichen Charakter, an dem sich, notabene, die Geister scheiden.
Granit Xhaka, Sohn kosovarischer Einwanderer, die Hand auf dem Schweizerkreuz, die Captainbinde am Arm. Gern gesehener Gesprächspartner der Journalisten, weil er immer etwas zu sagen hat und keine Plattitüden oder von Kommunikationsexperten faltfrei gebügelten Sätze von sich gibt. Granit Xhaka ist Granit Xhaka, und jeder meint, ihn zu kennen. Und in Serbien meinen sie, ihn nicht zu mögen.
Das hat vor allem mit seiner Abstammung zu tun. Serbien hat die Unabhängigkeit des Kosovo nie akzeptiert und stört sich vehement daran, dass bei den Schweizern mit Xherdan Shaqiri und Xhaka gleich zwei Fussballer dieser Herkunft auf dem Feld stehen. Wäre dem Duo nicht die Etikette «Unterschiedsspieler» umgehängt, wäre das wohl halb so wild.
Doch genau das Gegenteil ist der Fall. Shaqiri wird dieser Bezeichnung auf dem Platz zwar mehr gerecht. Aber abseits des Rasens wie für die Mentalität des Teams passt «Unterschiedsspieler» auf keinen besser als für ihn, Granit Xhaka.
Der Mittelfeldspieler ist ein Platzhirsch, gewiss. Aber als er sich eineinhalb Jahre nach dem U17-Weltmeistertitel 2009 aufmachte, im A-Nationalteam seinen Platz einzunehmen, da installierte er in ihm auch diese neue Attitüde: Wir lassen uns von niemandem etwas gefallen, wir sind die starke Schweiz, und vor allem sind wir stolz. War diese früher nur schon froh, einfach an einem Grossanlass dabei zu sein, wuchs mit dem mit viel Selbstvertrauen gesegneten Xhaka auch der eigene Anspruch ans Leistungsvermögen.
Aber mit Xhaka als Steuermann im Boot blieb es nie ruhig, und es ist müssig, all die Dinge nochmals aufzuzählen. Die Schweizer Gesellschaft arbeitete sich an ihnen wie an seiner Person ab. Darob vergass sie: Vieles, was die Schweiz heute verkörpert, all die Erfolge in der Fussballwelt, kamen nur deswegen zu Stande, weil sie vor allem dank Xhaka nun an sich und die eigenen Fähigkeiten glaubt.
Früher war Xhaka laut, auch frech, es gab kaum ein Fettnäpfchen, in das er nicht trat. Das scheint vorbei. In Katar lernen wir den Kopf der Schweizer von einer anderen Seite kennen, sie ist fast schon langweilig angesichts der Vergangenheit. Wenn man ihn mit dem bevorstehenden Serbien-Spiel konfrontiert, das gerade für ihn speziell emotional werden könnte, klingt das jetzt so:
Gleich ist es nun aber doch nicht mit Blick auf Xhakas Geschichte. 2018 an der WM explodierte er regelrecht: spielerisch mit dem Tor zum Ausgleich, emotional mit dem Doppeladler-Gruss. Es waren seine beiden Antworten auf den serbischen Hass, den er und seine Familie im Vorfeld über sich ergehen lassen mussten. Es war für ihn, der doch schon immer so viel auszuhalten wusste, zu viel geworden. Xhaka schlug auf die ihm ureigene Art zurück.
Das hatte auch mit der Vergangenheit seines Vaters Ragip zu tun. Dieser war Ende der 1980er-Jahre als Student in Pristina von Serben verhaftet worden, als diese den Anspruch auf den Kosovo untermauerten. Dreieinhalb Jahre sass der Vater im Gefängnis, wurde gefoltert, ehe Amnesty International die Freilassung erwirkte. Und er mit der Mutter die Heimat verliess. Natürlich prägt eine solche Erfahrung auch den Sohn.
Nun also wieder Serbien, wie 2018. Xhaka sagt: «Da steckt keine Geschichte hinter diesen beiden Spielen. Wir sind die Schweiz, sie sind Serbien. Das ist es. Nicht mehr, nicht weniger. Lasst uns auf den Platz gehen – der Bessere soll gewinnen.» Ist es tatsächlich so einfach? Der 109-fache Nationalspieler sagt:
Aber es gehe hier nur um Fussball. Die andere Seite, sie führte zu so vielem, sogar zum Streit mit dem Anhang Arsenals, für das er seit 2016 spielt. Dorthin war Xhaka von Mönchengladbach gewechselt, bis heute ist er der höchste Transfererlös des Bundesligaklubs.
Im Gesellschaftsspiel «Spiel des Lebens» fährt man mit dem Auto eine Strasse entlang. Man fällt Entscheidungen, dreht sich den Lohn am Glücksrad. Es gilt Kurven und Abkürzungen zu nehmen, man hat Stolpersteine zu bewältigen und an Stoppschildern sich für den einen oder anderen Weg zu entscheiden.
Man kann heiraten und hat dann womöglich auch Kinder. Wenn es weibliche Personen sind, stecken im Auto rosafarbene Knöpfchen – in Xhakas Auto hat es deren drei. Am Schluss gilt es zufrieden in Pension zu gehen. Und in seinem Spiel des Lebens wartet Xhaka jetzt auf dem Feld: Serbien. (aargauerzeitung.ch)