Als es geschafft ist, fällt Sarina Wiegman ihren Co-Trainern um den Hals und brüllt ihre Freude in den Genfer Nachthimmel. Mal wieder hat sie von der Seitenlinie aus die Wende für ihr Team herbeigeführt. Wie schon im Viertelfinal gegen Schweden stechen auch im Halbfinal gegen Italien die Joker Michelle Agyemang und Chloe Kelly, bewahren die Angreiferinnen von Arsenal das englische Team vor dem vorzeitigen Ausscheiden.
«Ich weiss nicht, wie ich es erklären soll, ich weiss nicht, wie wir das schaffen», sagte Captain Leah Williamson nach dem Vorstoss in den Final. Zumindest einen Ansatz fand ihre Chefin: «Wir glauben immer daran, dass wir gewinnen können und geben niemals auf», so Wiegman.
Die Titelverteidigerinnen arbeiteten sich ins Endspiel vor. Das zweifellos vorhandene Potenzial riefen die Lionesses, die Löwinnen, nur selten ab. In der Vorrunde, als sie das Messer nach der Startniederlage gegen Frankreich bereits am Hals hatten, brillierten sie gegen Wiegmans Heimatland Niederlande und gegen den EM-Neuling Wales. Nur um in den K.o.-Spielen in alte Muster zurückzufallen.
Das Team wirkte zeitweise lethargisch und stand zweimal vor dem Aus. Die Spielerinnen zeigten jedoch Moral, kamen zurück und behielten in den entscheidenden Momenten die Nerven. «Chloe blüht in solchen Momenten richtig auf. Sie ist begeistert davon, und das merkt man ihr auch an. Michelle – was für ein Talent», sagte Wiegman lobend über ihre Einwechselspielerinnen und gab ergo sich selbst einen Schulterklopfer.
Die Parallelen zum Auftritt der Männer im Vorjahr an der EM in Deutschland sind augenscheinlich. Auch die Three Lions konnten ihr Potenzial nur selten abrufen und standen mehr als einmal vor dem Aus. Doch sie zogen den Kopf ein ums andere Mal aus der Schlinge und stiessen schliesslich bis in den Final vor, den sie gegen Spanien verloren.
So sehr sich die Turnierverläufe ähneln. Während Gareth Southgate ständig in der Kritik und mit den englischen Boulevardblättern auf Kriegsfuss stand, fallen die teilweise dürftigen Darbietungen ihres Teams nicht auf Wiegman zurück. Im Gegenteil: Sie ist es, die den Sieg einwechselt, ihr goldenes Händchen beweist.
Wobei die Medien auch vier Jahre nach dem Amtsantritt immer noch nicht so richtig schlau werden aus der Niederländerin. So fragte etwa der «Guardian» nach dem Finaleinzug: «Was genau ist ihre Philosophie? Was genau ist Wiegman-Ball? Und wie ist es möglich, dass wir wenige Tage vor dem Final der Europameisterschaft noch immer keine Antwort darauf haben?»
Wiegman begann als Sechsjährige in der Umgebung von Den Haag mit dem Fussballspielen. Sie ist geprägt von der niederländischen Fussballschule, was sich in ihrem bevorzugten 4-3-3-System widerspiegelt. Ihre Sichtweise auf den Fussball verändert hat ein Jahr an der Universität von North Carolina. 1989 spielte sie an der Seite von späteren US-Grössen wie Mia Hamm, Kristine Lilly und Carla Overbeck. Wiegman erkannte in den USA, wie Frauenfussball sein kann: professionell und leidenschaftlich. Ein starker Kontrast zu dem, was sie in den Niederlanden erlebte. «Es hat mich verändert und geprägt», sagt sie über dieses Jahr in Übersee.
Am Sonntag steht Wiegman zum fünften Mal in Folge im Final eines grossen Turniers. Schafft sie mit England die Titelverteidigung, wäre es ihr dritter EM-Triumph in Folge (2017 gewann sie mit den Niederlanden). Im Falle des Sieges, so berichten es britische Medien, würde der vierfachen Welttrainerin eine ganz besondere Ehre zuteil, würde sie zur Ritterin geschlagen. Wie «The Telegraph» berichtete, könnte Wiegman analog zu Southgate die Auszeichnung auch im Falle einer Final-Niederlage erhalten.
So weit denkt die Niederländerin jedoch nicht, schliesslich hat sie mit ihrem Team nach dem verlorenen WM-Final von 2023 noch eine Rechnung offen mit Spanien. Fügt Wiegman ihrem ohnehin schon reichen Palmarès einen weiteren Titel zu, dürfte sie dies mit einem Jubelschrei in den Basler Nachthimmel quittieren. So, wie es sich gehört für die Königin der Löwinnen. (abu/sda)