Selbst kleinste Antworten können im Fussball inhaltsschwer sein. Ihnen wird jedoch kaum Beachtung geschenkt, weil sie wie Floskeln daherkommen. PR-Speech halt. Etwa: «Der Teamspirit ist gut, alles harmonisch, auch das Hotel top.» Nachträglich entpuppen sich solche 0815-Wortmeldungen womöglich als falsch.
Die Schweizer sind Meister solcher Sätze, aber welche Nation ist das nicht. Im Vorfeld wie während der Gruppenphase der EM war von Spielern wie Trainer Murat Yakin unisono zu hören: «Der Teamspirit ist gut, alles harmonisch, auch das Hotel top.» Doch dann spielten die Schweizer eine Gruppenphase, als wäre der Teamspirit sehr gut und alles sehr harmonisch, und die Teambasis mit dem Waldhotel in Stuttgart grandios. «Think the team first» – so das Motto. Selten in der jüngeren Vergangenheit, vor allem nicht im zweiten Halbjahr 2023 während der schlechten EM-Qualifikation, wirkte die Nati derart reif, fokussiert und abgeklärt. Und eben: harmonisch. Dieses positive Binnenklima gilt es zu schützen.
Der Jubel beim Auftaktsieg im grossen Pulk vor der eigenen Bank sprach Bände. Das Schweizer Volk bekommt derzeit ohnehin eine skandalfreie, sich hochgradig anständig verhaltende Mannschaft zu Gesicht, die beste Werbung in eigener Sache betreibt. Die Teamgeist lebt. Die Nähe zulässt und auf Schmusekurs mit sich selbst und ihrem Anhang ist. Und die trotz Verschmelzung mit dem Publikum Yakin in Frankfurt nach dem 1:1 gegen Deutschland demütig sagen lässt: «Wir bleiben bescheiden.»
Es gibt eine klare Hierarchie um Granit Xhaka, Manuel Akanji und Yann Sommer, natürlich braucht es diese. Im Sog des Trios verwandeln sich eigentliche Rollenspieler zu relativen Grössen, alle machen mit. Weil die Kette immer am schwächsten Glied brechen würde. Also versuchen die Schweizer, dieses schwächste Glied gemeinsam zu stützen; das geht nur über die Solidarität.
Xhaka geht dabei voran und stellt nicht mehr Ego respektive Eigenheiten ins Schaufenster. Vorbei das Tattoo und die blondierten Haare zu Corona-Zeiten, was beispielsweise einen Remo Freuler an der EM 2021 sichtlich nervte – oder zumindest die Fragen zum Thema. Vorbei Xhakas persönlicher (Abnützungs-)Kampf mit den Serben. «Think the team first» kann Berge versetzen.
Nach vielen Gesprächen mit Yakin und vermutlich auch mit Xabi Alonso, seinem Klubtrainer bei Bayer Leverkusen, zählt für Xhaka der Teamgedanke. Er ordnet ihm alles unter. Endlich, möchte man meinen. Xhaka ist in einer stabilisierenden Rolle ungleich sympathischer und stärker. Wobei er tatsächlich ein paar Monate brauchte, bis er mit Yakin warm wurde. Nun steuern sie das Nati-Boot gemeinsam.
Xhaka, der mit sich für die EM eine Art Stillhalteabkommen abgemacht hat, erfährt gerade, wie gut das alles tut und funktioniert. Wie wunderbar das Fest mit dem Volk ist. Neben Xhaka, der gegen Deutschland 11,8 Kilometer abspulte, ist jetzt endlich auch Akanji so weit, die volle Verantwortung zu tragen.
Teamspirit muss man mit Leben füllen, und die Schweizer haben bislang die perfekte Mischung gefunden. Einmal gab es einen freien Nachmittag, ein Teil der Spieler ging in Stuttgart in die Stadt, andere trafen ihre Familien. Es wächst etwas zusammen im Wissen, dass mit Ruhe und Entspanntheit mehr möglich ist. Siehe Italien an der letzten EM, das längst nicht das beste Team war, sich aber mit Zusammenhalt, Glück und Harmonie den Titel holte. Siehe aber auch die Schweiz im EM-Achtelfinal 2021, als sie sich trotz Ungemach in den Wochen zuvor als Mannschaft fand und wie die Comicfigur Asterix einem übermächtigen Gegner entgegenstellte.
Noch in Russland an der WM 2018, im Nirgendwo Togliattis, waren die Schweizer zwar an einem gemütlichen Ort, aber ganz weit weg vom Schuss. Es fehlte damals unter Trainer Vladimir Petkovic, der als Kontrollfreak galt, die Abwechslung. Playstation-Spiele dominierten, und der Kitt innerhalb des Teams war nach dem emotionalen Serbien-Spiel aufgebraucht, die Akkus waren danach leer. Lagerkoller wäre zwar ein grosses Wort, aber es ging damals in diese Richtung.
Heute sitzen die Schweizer gemeinsam in der Lobby oder draussen, die Playstation ist nicht mehr so en vogue. Dafür zum Beispiel Schach, ein Spiel für den Geist, das auch Yakin mag. Er weiss aus eigener Erfahrung, wie wichtig das Kopflüften ist. Der Trainer gibt seinen Spielern den nötigen Freiraum, während er sich mit Assistent Giorgio Contini, der die Sprache der Spieler spricht, die neueste Taktik ausdenkt.
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— UEFA EURO 2024 🇫🇷 (@EURO2024FRA) June 23, 2024
Yakin erhält gerade von allen Seiten viel Zuspruch und ihm begegnet in den sozialen Medien eine Welle der Sympathie vom weiblichen Geschlecht. Auch geniesst der Nati-Trainer jeweils eine Stunde vor Anpfiff die Huldigungen der Schweizer Kurve, er winkt ihr zu und macht Herzen in die Luft. Ja, diese charakterstarke Nati darf gerade viel geniessen in diesen Deutschland-Tagen. Vor allem ist sie eine Mannschaft geworden, die zum Träumen anregt. Sie fährt am Freitag nach Berlin. Es muss nicht bei dieser einen Reise in die Hauptstadt bleiben. (aargauerzeitung.ch)