Nach einem schönen Lupfer durch den Strafraum von Vinicius nimmt Lucas Paqueta den Ball volley ab und schiesst ihn unhaltbar ins lange Eck. Es ist bereits der vierte Treffer der Brasilianer nach noch nicht einmal 36 gespielten Minuten im Achtelfinal gegen Südkorea. Die Brasilianer spielten sich in der ersten Halbzeit regelrecht in einen Rausch, bevor sie dann mehrere Gänge zurückschalteten.
Der 4:1-Erfolg war ein erlösendes Erlebnis für die «Seleção», die zwar souverän durch die Gruppenphase kam, bei der es offensiv aber etwas haperte. Nur drei Tore erzielten die Brasilianer in ihren drei Gruppenspielen, keines davon vor der Halbzeitpause. Die Chancenverwertung war nicht so gut, wie eine Offensive mit solch grossen Namen vermuten lässt. Gemäss dem Wert der erwarteten Tore («expected Goals») von fbref.com hätte Brasilien 5,9 Treffer erzielen müssen.
Entsprechend gross war die Freude, als es dann endlich klappte und ein Ball nach dem anderen im gegnerischen Tor zappelte. Dies brachten die Brasilianer mit mehreren Tanzeinlagen zum Ausdruck. Nach dem 1:0 durch Vinicius feierte der Torschütze mit Raphinha, Neymar und Lucas Paqueta. Dieselben vier Spieler stellten sich auch nach Neymars Elfmetertreffer für ein Tänzchen nebeneinander auf. Beim dritten Tor animierte Richarlison gar Trainer Tite dazu, bei seiner Tauben-Imitation mitzumachen und nachdem Paqueta das 4:0 erzielt hatte, tanzte er alleine an der Eckfahne.
Raphinha, der Flügelspieler vom FC Barcelona, erklärte bereits vor dem ersten Spiel, dass die Brasilianer vorbereitet seien: «Wir haben uns schon Tänze für zehn Tore ausgedacht. Wenn wir mehr als zehn Tore schiessen, müssen wir etwas Neues entwickeln.» Mittlerweile sind Neymar, Richarlison und Co. bei sieben Treffern angekommen, drei Torjubel haben sie also noch in der Schublade. Die brasilianischen Fans würden sich bestimmt freuen, wenn alle verbleibenden Choreografien am Freitagnachmittag im Viertelfinal gegen Kroatien zum Einsatz kämen.
Tite imitando a comemoração do "Pombo" Richarlison. Esse é o tweet pic.twitter.com/Y4eBj277hU
— Guilherme Lopes (@Guilopesf) December 5, 2022
Doch nicht bei allen kommen die Freudentänze gut an, zum Teil hagelte es gar regelrecht Kritik. Besonders laut war jene vom früheren irischen Nationalspieler und heutigen TV-Experten Roy Keane. «Ich habe noch nie so viel Tanzerei gesehen», sagte der 51-Jährige gemäss «Sky Sport» beim britischen TV-Sender ITV. «Ich mag das nicht. Es wird gesagt, das ist ihre Kultur. Aber ich denke, das ist wirklich respektlos gegenüber dem Gegner», so der frühere Manchester-United-Profi weiter. Auch seitens einiger Fussballfans war in den sozialen Medien von «Arroganz» oder «Respektlosigkeit» zu lesen.
Brasiliens Nationalspieler stört die Kritik von aussen aber nicht. Raphinha antwortete auf diese: «Das Problem liegt bei denen, denen es nicht gefällt, weil wir werden weiter tanzen. Für uns symbolisiert es die Freude an einem Tor.» Sie täten es nicht, um jemanden gegenüber respektlos zu sein, sondern um zu feiern. «Es ist unser Moment, Brasilien feiert.» Die Unterstützung von Trainer Tite ist den Spielern dabei sicher. Dieser stellte bereits vor dem Turnier klar, dass er diesen nie verbieten würde, zu tanzen. Nun sagte der 61-Jährige: «Es gehört zur brasilianischen Kultur.» Es habe nichts mit Respektlosigkeit zu tun.
Zlatko Dalic, Trainer der Kroaten, äusserte sich vor dem Viertelfinal gegen Brasilien ebenfalls zu den Tanzeinlagen: «Sie haben ihre eigene Art, zu jubeln. Das ist ihr gutes Recht. Ob das respektvoll oder respektlos gegenüber dem Gegner ist, kann ich nicht sagen.» Sein eigenes Team möchte er zwar nicht auf diese Weise jubeln sehen, aber «Brasilien hat eine andere Kultur und sie mögen es zu tanzen».
Die verschiedenen Torjubel der Brasilianer stehen aber nicht nur für die Kultur der Südamerikaner, sondern auch für die gute Stimmung im Team. Im Verlauf des bisherigen Turniers wurde klar, dass die «Seleção» nicht nur aus hervorragenden Einzelkönnern besteht, sondern auch ein sehr starkes Team ist. Und dieses soll nun endlich den 6. WM-Titel für das Land holen. 20 Jahre ist es her, dass Ronaldo den Final von Yokohama mit seinem Doppelpack gegen Deutschland fast im Alleingang entschied. Die 214 Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer wollen sich nicht noch einmal vier qualvolle Jahre gedulden.
So lange warteten sie nämlich erst einmal auf den nächsten Triumph an einer Weltmeisterschaft. Nämlich, nachdem Pelé sein Land 1958, 1962 und 1970 zum Titel geführt hatte und es 24 Jahre ging, bis Romario, Bebeto und Co. den WM-Pokal zurück nach Brasilien holten. Der grosse Held kämpft seit einiger Zeit mit seiner Gesundheit – Pelé leidet an Darmkrebs. Den Achtelfinal der Brasilianer verfolgte er aus dem Spital. Viele Fans hoffen nun darauf, dass das Team von Tite für ihn den Titel gewinnt. Denn wer weiss, ob Pelé die nächste Weltmeisterschaft noch miterleben wird.
Der 82-Jährige ist das Idol aller brasilianischer Fussballer, so auch für Neymar, der sagte: «Für mich ist er der König vom Fussball. Pelé bedeutet Fussball. Er ist das grösste Vorbild in Brasilien.» Und mit Pelé im Herzen wollen die Brasilianer in Katar weitertanzen. Das würde auch dem Rekordtorschützen der «Seleção» gefallen. Als Vinicius im September wegen seines Jubeltanzes rassistisch beleidigt wurde, schrieb Pelé: «Fussball ist eine Freude. Ein Tanz.»