Zugegeben, es wäre eine tolle Geschichte gewesen, hätte das lange als «Vizekusen» verschriene Bayer Leverkusen auch seinen 52. Match in dieser Saison ohne Niederlage beendet und den zweiten Titel geholt. So hofften gestern Abend viele auch auf einen Erfolg des Bundesligisten. In Deutschland natürlich. Wegen Granit Xhaka auch in der Schweiz. Aber auch sonst ist das Team von Xabi Alonso aufgrund des attraktiven Fussballs, den es spielt, sehr beliebt bei Fussballfans. Und trotzdem ist der Erfolg von Atalanta Bergamo in der Europa League eigentlich die schönere Geschichte.
Denn sie hat alles: eine lange Leidenszeit, andernorts gescheiterte Akteure sowie einen einst geschmähten und nun überall respektierten Helden, die ihren gemeinsamen Aufstieg nun gekrönt haben.
Es ist der erste Titel der Bergamasken seit dem Gewinn der Coppa Italia in der Saison 1962/63. Das ist jetzt 61 Jahre her. Da waren von vielen jetzigen Spielern wohl noch nicht einmal die Eltern geboren und der heutige Trainer Gian Piero Gasperini war gerade einmal fünf Jahre alt. Seither ist viel passiert.
Atalanta und seine Fans durchlebten schwere Zeiten, regelmässig stieg der Klub in die Serie B ab, 1981/82 spielte La Dea («Die Göttin») gar nur in der drittklassigen Serie C. Und selbst in den vielen Jahren im Oberhaus reichte es nur ganz selten zu einem Platz in der oberen Tabellenhälfte. Den Europacup erreichte Bergamo noch seltener und letztmals 1990/91. Bis Gian Piero Gasperini kam.
Der heute 66-Jährige ist der Architekt des Erfolgs. 2016 übernahm er die graue Maus, die jahrelang ein Abstiegskandidat war, und führte sie trotz Anlaufschwierigkeiten auf Anhieb auf Platz 4 und in die Europa League. Seither ist Bergamo ein regelmässiger Gast in Champions League und Co. Von Beginn an setzte Gasperini dabei auf eine Dreierkette, die heute bei vielen Topklubs Standard ist – so auch beim gestrigen Gegner Leverkusen. Das freue ihn, erzählte Gasperini im Vorfeld des Finals: «Als wir angefangen haben, mit diesem System zu spielen, waren wir fast die Einzigen. Wir waren diejenigen, die seltsam waren. Inzwischen spielen viele Mannschaften so.»
Dies liegt mit Sicherheit auch an Gasperini, welcher der Dreierkette trotz anfänglicher Skepsis neues Leben eingehaucht hat. Hiess es früher, dass dieses System viel zu defensiv sei, bewies der Italiener das Gegenteil. Mit seinem auf Offensivfussball und aggressives Pressing ausgelegten Spielstil verursachte er selbst bei den Leverkusenern von Xabi Alonso, die bisher noch jede Herausforderung zu meistern wussten, grosse Probleme.
Was Gasperini in Bergamo aufgebaut hat, ist angesichts der regelmässigen Abgänge der besten Spieler umso beeindruckender. Alleine in den letzten beiden Jahren verkaufte man mit Rasmus Höjlund (73,9 Mio. Euro, Manchester United), Cristian Romero (52 Mio., Tottenham) und Robin Gosens (27,4 Mio., Inter Mailand) mehrere Leistungsträger. Seit 2016 erwirtschafteten die Bergamasken ein Transferplus von 156,1 Millionen Euro, mit Abstand das grösste aller Serie-A-Klubs. Auch deshalb verfügen der Klub und sein Trainer mittlerweile über ein sehr hohes Ansehen und eine grosse Beliebtheit in ganz Italien.
Auch der Schweizer Nationalspieler Remo Freuler, der sechseinhalb Jahre lang bei Atalanta spielte und bei seinem Abschied im Sommer 2022 als Vereinslegende gefeiert wurde, schwärmt von seinem früheren Trainer. In einem Interview mit dem SRF erzählte er vor drei Jahren: «Er hat mich in Italien gross gemacht und mir viel beigebracht.» Ein Teil des Erfolgsrezepts sei das harte Training unter Gasperini. «Ich habe noch nie so hart trainiert wie hier in Bergamo», sagte Freuler damals, der oberste Leitsatz sei: «Das Trikot muss immer verschwitzt sein.»
Obwohl der 32-Jährige lange eine wichtige Figur im Team war, jubelte nun ein anderer Schweizer über den Triumph in der Europa League: Berat Djimsiti. Der geborene Zürcher ist ein FCZ-Junior und etablierte sich bereits mit 20 Jahren als Stammspieler. Nach dreieinhalb Saisons bei den Profis wurde er von Sami Hyypiä jedoch aus dem Team geworfen, gleichzeitig mit Freuler kam er im Januar 2016 nach Bergamo.
Der Innenverteidiger hatte jedoch Probleme, sich bei den Lombarden zu etablieren und wurde mehrfach verliehen – Avellino in der Serie B und Benevento hiessen die Stationen. Nach seiner Rückkehr im Sommer 2018 spielt Djimsiti sich fest und er ist mittlerweile nicht nur unangefochtener Stammspieler, sondern auch Abwehrchef und Captain. Keiner seiner Teamkollegen stand in dieser Saison so häufig auf dem Feld wie er. Der 31-Jährige durfte am Mittwochabend als erster die Europa-League-Trophäe in den Nachthimmel über Dublin recken.
Nach dem Spiel sagte er gegenüber dem Tages-Anzeiger: «Der Sieg heute macht das alles wett.» Damit meint der 56-fache albanische Nationalspieler, der zuvor lange für die Schweizer Junioren-Nationalteams gespielt hat, nicht nur den Rauswurf bei seinem Herzensverein FCZ, sondern auch die drei verlorenen Cupfinals mit Bergamo. Atalanta könnte aufgrund der insgesamt fünf verlorenen Finals seit dem letzten Titelgewinn durchaus als italienisches Vizekusen bezeichnet werden.
Am Mittwochabend gewann Atalanta Bergamo dann aber den Final der Europa League gegen Leverkusen dank drei Toren von Ademola Lookman 3:0. Der englisch-nigerianische Doppelbürger schrieb eine weitere tolle Episode dieses Abends. Mit grossem Talent gesegnet, schaffte er den Durchbruch so richtig erst nach vielen glücklosen Stationen und mit 25 Jahren in Italien. Damit hatte das lange Warten ein Ende. Für Trainer Gian Piero Gasparini, für Berat Djimsiti, und natürlich für den Klub und seine Fans.
Eine rundum gelungene Geschichte also – ganz ohne Rekord-Serie.