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Alleine die Betonung des Wortes lässt erahnen, was «Futebol» hier bedeutet. «Futschibooau» sprechen es die Menschen in Rio weich, melodisch und ein wenig melancholisch aus. Fussball ist 1894 als «brutaler britischer Sport» nach Brasilien gekommen. In der Zeitspanne von wenigen Jahrzehnten ist daraus das stärkste Symbol brasilianischer Identität geworden. Die «Seleçao Brasileira» hat fünfmal den WM-Titel gewonnen. Aber noch nie olympisches Gold.
Schon nach wenigen Tagen können wir davon ausgehen, dass die Chronisten diese Spiele von Rio zu den stimmungsvollsten aller Zeiten küren werden. Eine Mischung aus Sportfest, Karneval und wilden Partys. Emotional, laut, feurig, fröhlich, farbig. Egal, wer siegt. Die brasilianische Lebensfreude ist längst im olympischen Dorf der Athleten eingezogen. Eine der meistverbreiteten News: 450'000 Kondome sind im olympischen Dorf verteilt worden. Umgerechnet zwei pro Athletin bzw. Athlet vom ersten bis zum letzten letzten Tag. Und es ist in Rio noch nicht aller olympischen Tage Abend.
Wir sind vom Thema abgeschweift. Was den Brasilianerinnen und Brasilianern wirklich am Herzen liegt, ist der Fussball. «Futschibooau. Noch nie hat Brasilien einen globalen Titel im eigenen Land gewonnen. Weil ein Fluch über diesen Turnieren liegt. Nun zieht nach der WM von 1950 und 2014 wieder ein Fussballdrama herauf. Brasilien hat gegen die Exoten Südafrika und Irak kein Tor erzielt. Zweimal 0:0. Nur noch ein Sieg heute gegen Dänemark kann das vorzeitige Ausscheiden in jedem Fall verhindern.
Es ist der schlimmste Start zu einem olympischen Turnier seit 1972 in München. Damals scheiterte Brasilien nach Niederlagen gegen Dänemark (2:3) und Iran (0:1) sowie einem Remis gegen Ungarn (2:2) schon in der Vorrunde. Eine Pleite ohne Folgen und weit weg von der Heimat. Brasilien war damals Weltmeister.
Aber jetzt ist alles anders. Brasiliens Fussball ist in eine Depression geraten und ist ein Spiegelbild des Landes. Auch Verbandspräsident Marco Polo Del Nero steckt in einem Amtsenthebungsverfahren. Weil ihn die US-Justiz sucht, kann er sein Land nicht mehr verlassen. Er steht im Verdacht, in eine Geldwäscheaktion im Umfang von 200 Millionen Dollar verwickelt zu sein. Und jetzt auch noch sportliches Scheitern? Nein, das darf nicht sein. Denn dann kehren die «Dämonen» von 1950 und 2014 zurück. Unvorstellbar. Brasilien bangt um sein Nationalteam. Um seine Seele. Um seine Identität. Fussballdramen sind in Brasilien immer nationale Tragödien.
Kein anderes Land der Welt beschäftigt sich so intensiv und ausdauernd mit seinen fussballerischen Triumphen und Dramen. In keinem anderen Land hat Fussball eine so grosse Bedeutung. Auch nicht in Deutschland, Italien oder England.
Fussball ist in Brasilien viel mehr als Sport. Seit der Gründung als Republik im Jahre 1889 hat Brasilien – abgesehen von wenigen Grenzstreitigkeiten – mit keinem seiner Nachbarn Krieg geführt. So ist es bis heute geblieben. Das Land hat politische Aufstände erlebt und Diktatoren kommen und stürzen sehen. Es erduldet wirtschaftliche Depressionen. Aber es hat kaum gemeinsame historische Momente. Kein Morgarten, Marignano, Trafalgar, Pearl Harbor, Caporetto, Waterloo, Sedan, Gallipoli oder Tannenberg.
In Europa wird die Zeiteinteilung des 20. Jahrhunderts in den meisten Ländern von den beiden Weltkriegen bestimmt. Brasilien bezieht sein historisches Zeitgefühl aus den Rhythmen der Fussball-Weltmeisterschaften. In den Wochen eines grossen Fussballturniers fühlt es sich am meisten als geeinte Nation.
Brasilien hat als einziges Land an allen Weltmeisterschaften teilgenommen, so dass sich die Lage der Nation seit 1930 in Zeitsprüngen von vier Jahren darstellen lässt.
Und nun also das olympische Fussballturnier im eigenen Land. Keine WM. «Nur» ein olympisches Turnier. Und doch die goldene Chance, die Dämonen der Niederlagen von 1950 und 2014 zu vertreiben und Frieden mit der Vergangenheit zu schliessen.
Wie sehr diese Niederlagen von 1950 und 2014 das Land traumatisiert haben, hat der Journalist Paolo Perdigao einmal so beschrieben. «Sie sind das Waterloo der Tropen und ihre Geschichte unsere Götterdämmerung.»
Ein Waterloo der Tropen, eine Götterdämmerung wäre auch ein Scheitern im olympischen Fussballturnier. Und es hätte wohl politische Folgen. Das 1:2 von 1950 führte bei den Wahlen im gleichen Jahr zu einem Regierungswechsel und mündete schliesslich in einer Militärdiktatur. Das Land wurde um Jahre zurückgeworfen. Das 1:7 gegen Deutschland von 2014 markiert den Beginn einer schweren Krise, die noch nicht ausgestanden ist.
Das Ende eines Traumes, das Ende der Illusion, mit Präsident Lula da Silva und «Lulaismus» einen neuen, einen dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus gefunden zu haben. Die schon lange bereitliegenden Dossiers der Opposition, um alle Ungereimtheiten der Regierenden anzuprangern, sind hervorgeholt worden. Die Nachfolgerin von Lula da Silva steckt in einem Amtsenthebungsverfahren. Als ob so stellvertretend die schmachvolle Fussball-Niederlage aufgearbeitet werden könnte. Was würde auf ein Scheitern bei Rio 2016 folgen?
Wieder spielt Neymar da Silva Santos Junior (24) eine zentrale Rolle. Beim 1:7 gegen Deutschland im WM-Halbfinal 2014 fehlte er wegen einer Blessur und entkam der Schande. Jetzt ist er dabei. Sein Arbeitgeber Barcelona hat ihm im Jahre 2016 die Teilnahme eines Turniers erlaubt. Entweder «Copa Americana» oder das olympische Fussballturnier. Er hat Rio gewählt.
Rio wird sein Triumph – oder sein persönliches Waterloo. Er weiss, was ihm blüht. Moacyr Barbosa, Brasiliens WM-Goalie von 1950, war damals einer der besten Torhüter der Welt. So wie heute Neymar einer der besten Stürmer der Welt ist. Er sagte einmal über sein Los nach dem fatalen 1:2 gegen Uruguay, an dem er unschuldig war und doch deswegen fortan geächtet wurde als sei er von den Dämonen dieser Niederlage besessener Unglücksbringer. Nicht einmal des Verbrennen der Torposten des Gehäuses, das er damals gehütet hatte, konnte ihm helfen. «Die Höchststrafe, welche in Brasilien für ein Kapitalverbrechen verhängt wird, dauert 30 Jahre. Ich habe lebenslänglich gekriegt. Ohne Chance auf Begnadigung.»
Nun droht Neymar ebenfalls lebenslänglich.