Mit lediglich zwei Minuten Super-League-Erfahrung stieg Alessandro Vogt in diese Saison. Und jetzt, nach nur drei Spielen, steht der 20-Jährige mit St. Gallen an der Tabellenspitze und führt mit drei Toren die Torschützenliste der Super League an. Dabei wurde ihm mit 16 die Türe zum Leistungssport zugeschlagen. Wir haben mit sechs Menschen gesprochen, die das Phänomen Alessandro Vogt erklären.
«Nachdem ich im Sommer 2021 die 1.-Liga-Mannschaft des FC Wohlen übernahm, schaute ich mir häufig Spiele unserer Junioren an, um nach möglichen Kandidaten Ausschau zu halten. Bald fiel mir Alessandro auf. Er war zwar erst 16. Aber mir gefiel seine Robustheit, sein Torinstinkt, sein Wille.
Klar kam mir schon einiges über Alessandro zu Ohren. So hiess es aus Aarau, er genüge technisch nicht, weshalb man ihn nicht in die U18 promovierte und er zurück nach Wohlen musste. Aber wenn ein Spieler mit 16 angeblich technisch nicht genügt, muss man sich als Ausbildner schon auch fragen, ob man mit dem Spieler richtig gearbeitet hat.
Es kann passieren und es ist auch kein Verbrechen, dass man einen jungen Spieler falsch einschätzt. Aber ich hatte das Gefühl, dass man sich beim FC Aarau gar nicht richtig mit Alessandro auseinandergesetzt hat. Fakt ist: Alessandro war vielleicht kein Edeltechniker, aber er war auch nicht so schlecht, wie er hingestellt worden ist. Aber vor allem hatte er grosse Stärken in der vielleicht schwierigsten Disziplin im Fussball: dem Toreschiessen.
Und dann kam im November 2022 dieses Spiel, das sich nachträglich als Karriere-Boost entpuppte. Wir empfingen Servette im Cup-Achtelfinal. Ich brachte Alessandro von Beginn weg. Er erzielte das 1:0, sorgte permanent für Betrieb. Die Genfer kriegten ihn nicht unter Kontrolle. Nach dem beeindruckenden Auftritt dieses erst 17-jährigen Spielers war mir klar, dass seine Tage in Wohlen gezählt sein werden.»
«Alessandro war sieben, als er nach Hause kam und sagte: Ich will in den FC. Es kam ziemlich plötzlich, weil er sich vorher nicht für Fussball interessierte. Doch von diesem Moment an gab es für ihn nur noch eines: Fussball. Die Schule war für ihn eher nebensächlich. Es fehlte ihm nicht an Intelligenz. Aber er hatte einfach nur den Fussball im Kopf. Und so wurde die Schule für ihn zur Plage.
Für meine Frau und mich bedeutete das, ihn ein Stück weit machen zu lassen. Das gelang uns recht gut, weil Fussball aus unserer Sicht auch ein Stück weit Lebensschule ist. Aber wir mussten lernen, mit den Rückmeldungen der Lehrpersonen richtig umzugehen. Sicher, wir hatten unsere Erwartungen. Alessandro sollte die obligatorische Schule beenden und danach eine Lehre abschliessen. Beides hat geklappt. Und darauf sind wir sehr stolz.
Aber Alessandro hatte nur eins im Kopf: Fussballprofi werden. Von diesem Ziel liess er sich auch durch Rückschläge nie abbringen. Und davon gab es einige.
Als er 15 war, machte GC Avancen. Dadurch wurde auch Aarau auf ihn aufmerksam. So brach er das 10. Schuljahr in Wohlen ab und entschied sich für den FC Aarau, um dort die Schule zu beenden. Doch gut lief es ihm in Aarau nicht. Meist kam er nur zu Teileinsätzen, weil man die eigenen Junioren bevorzugte, und irgendwann hiess es: Du reichst nicht mehr, geh zurück nach Wohlen.
Für einen 16-Jährigen ist es nicht einfach zu verkraften, wenn ein Traum platzt. Es war ein Tiefpunkt, und in dieser Corona-Zeit verstarben auch noch seine Nonna und sein Nonno, zu denen er eine enge Beziehung pflegte. Doch Alessandro liess sich nicht unterkriegen. Er musste immer wieder einen Schritt zurück machen. Er war nie in einer kantonalen, geschweige denn in einer nationalen Auswahl. Dadurch konnte er nicht in eine Sportschule. Und als es um die Lehre ging, musste er den schwierigeren, konventionellen Weg einschlagen. Statt wie viele andere das vierjährige Sport-KV zu machen, begann er beim Kanton Aargau mit der dreijährigen Lehre.
Als es zum Bruch mit dem FC Aarau kam, diskutierten wir auch über einen Wechsel ins Ausland. Meine Frau ist Italienerin. Deshalb haben Alessandro und seine zwei älteren Schwestern Laura und Simona alle auch den italienischen Pass. Und deshalb verbringen wir die Sommerferien immer in Italien. Für Alessandro bedeuten aber auch Ferien, unentwegt einem Ball hinterherzujagen. Und so schickten wir ihn jeweils in das Fussball-Camp von Juventus Turin. Das erste Mal im Sommer 2015. Dort hat er auch einen Higuain, Lichtsteiner, de Light und sein grosses Vorbild Ronaldo getroffen. Daraus sind über die Jahre Beziehungen zu Fussballexperten entstanden, und es lag sogar ein Angebot aus der Serie C vor. Doch schliesslich hat sich Alessandro für Wohlen entschieden, denn für einen Wechsel nach Italien war er noch nicht weit genug.
Andere hätten nach den Vorkommnissen wie in Aarau vielleicht den Bettel hingeworfen oder die Ambitionen verloren. Aber Alessandro hatte stets das Bewusstsein, dass der Weg hürdenreich sein kann. Und vor allem hat er einen Willen, der uns immer wieder erstaunte.
Dann kam dieses Servette-Spiel im November 2022. Nach dieser Partie haben St. Gallen, Luzern, aber auch GC und der FC Zürich sowie weitere Vereine Interesse an Alessandro gezeigt. St. Gallen und Luzern wollten ihn unbedingt. Den Ausschlag für die Ostschweizer gab das Gesamtpaket mit einem Dreijahresplan, einer überzeugenden Vereinsführung und einem kompetenten technischen Leiter, Mario Gilli.
Der Plan scheint aufzugehen. In den ersten eineinhalb Jahren wurde er in der U21 behutsam aufgebaut, ehe er in der letzten Saison Stammspieler wurde. Und dann, fünf Wochen vor Saisonende, wurde Alessandro von der U21 in die erste Mannschaft hochgezogen. Später wurde ihm beschieden, dass er die komplette Vorbereitung mit den Profis absolvieren dürfe. Mir war klar: Diese Chance wird er packen.
Warum? Weil er demütig, gradlinig, anständig, arbeitswillig ist und diesen ausgeprägten Torriecher hat. Trotzdem hätte ich nicht damit gerechnet, dass er in drei Spielen ebenso viele Tore erzielen würde. Aber ich wusste, dass er bereit ist für den Profifussball. Auch, weil er im Februar die Auto- und im Sommer die KV-Prüfung bestanden hat. Das hat ihn befreit. Aber auch zu Recht stolz gemacht.
Die Gefahr, dass er nun abhebt, sehe ich nicht, weil er demütig genug ist und ihm der Fussball so viel bedeutet. Wenn er am Wochenende nach einem Spiel nach Hause kommt, trifft er sich mit den alten Kollegen, um ein wenig zu kicken, schaut sich ein Spiel von ihnen an oder geht mit seiner Schwester Simona ins Gym. Er weiss, woher er kommt und wird das auch nie vergessen.»
«Alessandro ist einer meiner besten Kumpel im FC St.Gallen, auf und neben dem Platz. Unsere Geschichte ist speziell und verbindet uns. Als ich im Sommer 2023 zum FC St.Gallen kam, war Alessandro auch noch nicht so lange hier. Wir bestritten dann gemeinsam eine Saison mit der U21 – und stiegen am Ende leider in die 1. Liga ab. Wir wohnten von Beginn weg in der FCSG-Akademie zusammen in einer Wohnung. Und wenn du fast Tag und Nacht zusammen bist, schweisst das schon sehr zusammen.
Nach dem Abstieg wechselte ich leihweise zum FC Wil, doch auch in dieser Phase wohnte ich mit Alessandro in der Akademie. Oft flachsten wir herum und malten uns aus, wie schön das wäre, wenn wir beide in naher Zukunft für den FC St.Gallen in der Super League auflaufen könnten.
Nun ist der Traum vorerst wahr geworden, bereits zu Anfang dieser Saison hat es geklappt. Das ist wunderschön. Unser «Zimmer Figo» gibt es seit einigen Wochen aber nicht mehr – ich wohne neu in Teufen, und auch Alessandro bezieht eine eigene Wohnung.»
«Der Leiter des Nachwuchsleistungszentrums des FC St.Gallen, Mario Gilli, suchte vor Weihnachten 2022 kurzfristig eine leistungssportfreundliche Stelle für eine KV-Lehrfortsetzung ab Januar 2023. Am 22. Dezember 2022 kam Alessandro mit seinem Vater für ein Kennenlernen sowie die gleichzeitige Vertragsunterzeichnung vorbei.
Alessandros Lehrzeit verlief dann aber nicht immer ganz so leicht. Dann und wann verschlief er, war immer mal wieder die eine oder andere Minute zu spät und vergass doch einige Aufgaben oder Fristen. Und seine Noten in der Schule waren, sagen wir es mal so: nicht wirklich berauschend. Seine grosse Leidenschaft galt offenkundig dem Fussball und definitiv nicht der Berufsschule, wo er meist nur das Minimalismusprinzip anwendete.
Ab und zu fragten wir uns schon, ob er in der kaufmännischen Ausbildung am richtigen Ort war und wir ihm mit der Lehre gleichzeitig neben dem Sport überhaupt einen Gefallen taten oder ihn eher in eine Überforderungssituation brachten. Wir führten doch einige ernste Gespräche mit ihm, begleiteten ihn deutlich enger als andere oder drohten auch schon mal an, den Lehrvertrag aufzulösen.
Es gab viele harzige Momente, aber genauso viele lustige. Letztlich ist es eine gegenseitige Erfolgsstory. Obwohl wir im Betrieb bis zum letzten Moment nicht wussten, ob Alessandro die Prüfung besteht. Umso grösser war natürlich die Freude, als es dann so war!
Alessandro hat seinen ganz eigenen Charme und bei uns vor allem mit seiner demütigen und bescheidenen Art gepunktet, mit seiner Freundlichkeit und seinem Anstand. Den Willen, die Lehre erfolgreich zu beenden, hat man immer wieder deutlich gespürt. Auch hat er sich immer wieder entschuldigt und Besserung gelobt, und sein ganz grosser Pluspunkt: Er war zu keinem Zeitpunkt je frech, aufsässig oder arrogant – weshalb wir auch nicht anders konnten und wollten, als ihn zu unterstützen. Man musste ihn einfach gernhaben.»
«Alessandro ist mit 18 Jahren zu uns in die Akademie gekommen. Ich habe ihn als liebevolles Schlitzohr kennengelernt, das dann und wann die Grenzen der Hausregeln ausgelotet hat. Manchmal belegte er zwischenzeitlich freie Zimmer, ein anderes Mal zapfte er mit Kollegen unerlaubterweise das «schnelle» Internet in Gemeinschaftsräumen an.
Alessandro verfügt über guten Humor und viel Schalk. Und er ist zielstrebig. Oft sagte er zu mir: «Wenn ich die Chance in der Super League erhalte, dann packe ich sie, dann werde ich es gut machen.» Er hat immer daran geglaubt, dereinst in der ersten Mannschaft aufzulaufen. Dabei blieb er aber immer demütig und bescheiden. Er war nie überheblich.
Man darf das Leben in einer Akademie nicht romantisieren. Läuft die Meisterschaft, gibt es für die jungen Spieler pro Woche einen freien Tag. Sie sind teilweise über längere Zeit bei uns, ohne einmal zurück nach Hause gehen zu können.
Alessandro hat den Austausch mit uns Erwachsenen geschätzt. Er war keiner, der sich nach dem Znacht sofort auf sein Zimmer zurückzog. Er wollte lieber noch etwas mit den Kollegen oder mit uns plaudern. Ihm war es aber auch immer wichtig, über anderes zu reden als nur Fussball.
Wir haben letztmals am Mittwoch miteinander geredet. Ich sagte zu ihm, dass er so bleiben soll wie vorher. Und dass es nun wichtig sei, das Niveau über eine längere Zeit zu halten. Alessandro muss Erfahrungen sammeln. Er weiss, wie es ist, wenn man als Stürmer einmal über eine längere Zeit ohne Tor bleibt. Als er während seiner Zeit in der U21 einmal länger nicht traf, musste er sich das eine oder andere anhören von den Teamkollegen in der Akademie. Das brachte Alessandro aber nicht aus der Ruhe.»
«Wir hatten eine Liste zusammengestellt mit jungen Schweizer Spielern, die für uns interessant sein könnten. Ein Scout von uns hat Alessandro in einem 1.-Liga-Spiel mit Wohlen beobachtet und einen Bericht verfasst. Was da drin stand, tönte sehr spannend: Erwähnt waren seine Wucht, die Schnelligkeit, die Schusstechnik und sein gutes Pressingverhalten.
Wir schickten einen weiteren Beobachter zu einem anderen Spiel, und wenig später waren wir auch im November 2022 vor Ort, als Alessandro im Cup-Achtelfinal gegen Servette das schöne Tor zum 1:0 erzielte. Danach wussten wir, dass wir angreifen müssen, da auch andere Klubs schon Interesse signalisiert hatten. Wir holten uns beim FC Wohlen die Erlaubnis ein, mit Alessandro und seiner Familie in Kontakt zu treten.
Danach luden wir die Mutter, den Vater und den Sohn nach St.Gallen ein. Wir zeigten der Familie und Alessandro auf, was wir ihm bieten könnten. Wäre es nur ums Geld gegangen, hätten wir nicht mithalten können. Doch wir konnten die Familie von unserem Projekt überzeugen.
Alessandro ist ein super Beispiel dafür, wohin ein Weg führen kann, wenn in einem Klub die verschiedenen Rädchen perfekt ineinandergreifen. Von der Entdeckung über die Entwicklung bis hin zur Super League: Viele Leute waren daran beteiligt. Am Ende war es aber Alessandro, der die Chance bisher nutzte – dank seiner Mentalität und seiner Einstellung. Er beschäftigt sich mit der Ernährung und geht ins Mentaltraining. Er ist ein Vorbild für all die jungen Spieler im FCO: Wenn du gut bist, spielst du.
Im Training mit der ersten Mannschaft hat er sich schnell Respekt erarbeitet. In einem Zweikampf mit ihm zog sich Stephan Ambrosius schon eine blutende Nase zu. Und Ambrosius ist nicht der Zarteste in der Mannschaft.» (aargauerzeitung.ch)
Es waren erstmal drei Spiele und drei Tore.
Drei!
Der Zug kann ganz schnell wieder in die andere Richtung fahren.