WM-Halbfinal im August 2023. In der 89. Minute erzielt Olga Carmona für Spanien das entscheidende Tor zum 2:1 gegen Schweden. Es ist ein Traumtor, das bei wiederholter Betrachtung haltbar erscheint. Zwar schlägt der Schuss nur knapp unter der Latte ein, doch ist er relativ mittig platziert, Torhüterin Zecira Musovic ist mit den Fingerspitzen sogar noch dran.
Nations League im Mai 2025. Die Schweizerin Livia Peng will den Ball vor der heranstürmenden Französin noch einmal zurückziehen, erwischt diesen mit der Sohle aber nicht, weshalb Clara Matéo ins leere Tor schiessen kann.
Es sind solche Tore, die dafür sorgen, dass das Goaliespiel bei den Frauen in gewissen Kreisen belächelt wird. Hohe Schüsse seien fast immer drin und Patzer an der Tagesordnung, heisst es dann. Während die Fussballerinnen taktisch und technisch immense Fortschritte gemacht haben, hinken die Torhüterinnen etwas hinterher. Das sieht auch Kathrin Lehmann so. Die 45-Jährige sagt: «Aktuell gibt es keinen Weltklasse-Goalie bei den Frauen.»
Das hat in den Augen der früheren Nationalliga-A- und Bundesliga-Torhüterin sowie heutigen Expertin verschiedene Gründe. Erst einmal müsse man aber verstehen, dass «die Goalies für die Hälfte dieser komischen Tore nichts können». Sie sind nun mal schlicht kleiner als die Männer. Um das Tor abzudecken, müsse ein Goalie je kleiner er oder sie ist, weiter nach vorne gehen. Dadurch erhöht sich aber das Risiko, überlupft zu werden, deutlich. Auch das ist für eine Stürmerin einfacher, je kleiner das Gegenüber ist. Bleibt die Torhüterin hingegen auf der Linie kleben, kann sich die Gegnerin die Ecke aussuchen.
Deshalb sei das Positionsspiel bei den Frauen umso wichtiger, findet Pascal Zuberbühler. Der einstige Nati-Schlussmann analysiert für die FIFA das Goaliespiel bei Männern wie Frauen und sucht Wege, dieses weltweit zu verbessern. Zuberbühler stellt klar: «Ich kann nicht mehr hören, dass Frauen höher springen können müssen. Viele Tore gehen oben rein, okay, die Torhüterinnen sind im Schnitt aber kleiner. Und sie springen schon einen halben Meter aus dem Stand, mehr können sie nicht herausholen.» Aus diesem Grund müsse den Goalies im Fussball der Frauen noch stärker gezeigt werden, wo sie je nach Situation zu stehen haben.
Gaëlle Thalmann, auch sie einst Nati-Torhüterin, zieht hier den Vergleich zu Yann Sommer. Der 1,83-Meter-Mann ist für seine Position eher klein. «Er muss in gewissen Situationen perfekt sein, während beispielsweise ein Thibaut Courtois etwas mehr Zeit hat, um zu reagieren», erklärt die 39-Jährige, die mittlerweile als Goalietrainerin bei den Junioren des Team Ticino arbeitet.
Einen Sommer nachzuahmen, ist aber sehr schwierig: «Er ist ein Ausnahmetalent», sagt Zuberbühler. Die 1,71 m grosse Thalmann erklärt zudem einen weiteren Nachteil für kleinere Goalies: «Bei Eckbällen sieht man nicht immer über die anderen drüber und muss den Ball suchen. Dabei ist man immer aus dem Gleichgewicht. Zudem ist es schwieriger, im Getümmel zum Ball zu kommen.»
Es gebe aber noch einen weiteren Aspekt, der das Leben der Torhüterinnen gegenüber ihren männlichen Konterparts schwieriger macht. «Die Taktik ist auf Männer ausgerichtet», sagt Lehmann. Beim klassischen 4-4-2 sei jeweils ein Abstand von 10 bis 15 Metern zwischen den Spielern und den einzelnen Ketten, auf diese Distanz sei ein Mann im Schnitt aber eine Sekunde schneller als eine Frau. «In dieser Sekunde schiessen die Spielerinnen an der EM aus 25 Metern ins Lattenkreuz», so Lehmann, die bilanziert: «Ein Grössenunterschied von etwa einem Ball und zusätzliche Zeit für die Offensive – nüchtern betrachtet kann man da klar herleiten, weshalb es mehr Tore gibt.»
Für das Multitalent – Lehmann spielte auch erfolgreich Eishockey als Stürmerin – gilt es daher, diese Norm aufzubrechen. «Ja, es passieren mehr solcher Tore. Wir sind kleiner, da ist doch klar, dass ich mehr Aufwand betreiben muss, um die gleiche Fläche abzudecken. Und es ist doch okay, wenn mehr Tore passieren.»
Die Diskussion über kleinere Tore will Lehmann deshalb aber nicht führen. Und zwar aus einem so einfachen wie nachvollziehbaren Grund: «Als die Regeln für den Fussball im Jahr 1863 geschrieben wurden, war der Durchschnittseuropäer 1,67 m gross. So gross sind die Frauen heute. Wieso sollte dann das Tor angepasst werden?»
Thalmann ist gleicher Meinung: «Ich bin sicher, dass noch mehr gut ausgebildete Goalies kommen, die sich an diesen Toren orientieren. Natürlich wird es noch immer Tore geben, die es bei einem Mann nicht geben würde, weil der Grössenunterschied nicht verschwindet. Ich finde aber nicht, dass man es deshalb einfacher machen sollte.»
Während diese Treffer also zu erklären sind, bleibt immer noch die andere Hälfte der «komischen Tore», wie sie Kathrin Lehmann nennt. «Die nerven mich jeweils und es wäre schön, wenn diese 50 Prozent auf 10 Prozent gesenkt werden könnten», so die Expertin. Gleichzeitig könne hier aber auch die Wahrnehmung täuschen.
Pascal Zuberbühler sagt: «Es gibt überall Patzer, aber viele haben bei der Goalieposition im Frauenfussball immer noch dieses Denken: ‹Das kommt nicht gut.›» Dabei habe sich die Problematik deutlich verbessert. «Ich glaube, die Fehler der Frauen werden viel stärker unter die Lupe genommen», pflichtet Gaëlle Thalmann bei. Zwar würden auch Männer zerrissen, wenn sie einen Fehler machen, aber bei den Frauen werde sofort pauschalisiert: «Ach, schaut mal, Frauenfussball. Die Goalies sind da einfach so schlecht!» Auch die 109-fache Nationalspielerin sagt: «Es gibt Fehler, vielleicht auch andere als bei den Männern. Aber das hat sich ziemlich stark reduziert.»
Dass diese Patzer gerade bei den europäischen Nationen immer weniger werden, hat unter anderem mit der Professionalisierung des Goalietrainings zu tun. «Früher gab es bei manchen Klubs keine kompetenten Trainer», erklärt Thalmann, «man hätte gerne gut trainiert, aber der Inhalt passte nicht.» Zuberbühler, der sich als FIFA-Angestellter mit der weltweiten Entwicklung befasst, berichtet: «Es gibt viele Torhüterinnen, die erst seit drei, vier Jahren einen Goalietrainer oder eine Goalietrainerin haben. Da kann noch nicht alles gut sein.» Es werde besser, doch noch immer fehlten an vielen Orten kompetente Goalietrainerinnen und -trainer bei den Frauen.
Und fragt man Kathrin Lehmann, verfolgen viele auch den falschen Ansatz. So sähen viele die Torhüterinnen einfach als weibliche Torhüter, dabei müssten diese anders trainiert werden als Männer. Um das zu verändern, veröffentlichte Lehmann vor Kurzem gemeinsam mit dem Goalietrainer Michael Gurski von den Frauen von RB Leipzig das Buch «Torfrautraining». Lehmann erklärt: «Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass Männer eine bessere Orientierung, Frauen aber eine bessere Rhythmisierung haben. Will ich also einer Frau zeigen, wie sie eine Flanke am besten abfängt, brauche ich eine andere pädagogische Herangehensweise als bei einem Mann.»
So müsse eine Torhüterin – anders als ein Torhüter – nicht lernen, wie sie den Ball durch ihre Schnellkraft am höchsten Punkt fängt, sondern vielmehr, mit welchem Rhythmus sie am höchsten hüpfen könne. Bisher sei das Training bei den Frauen zu wenig adressatenspezifisch gewesen, findet Lehmann, worunter auch die Qualität litt.
Was die ZDF-Expertin ebenfalls kritisiert, ist die zunehmende Spezialisierung der Goalies. Anstatt sie auch mal gemeinsam mit dem Team trainieren zu lassen, was gerade dem Zusammenspiel mit der Verteidigung helfen würde, werden die Torhüterinnen schon zu Beginn des Trainings separiert. Lehmann wünscht sich deshalb «mehr Generalisierung und etwas weniger Spezialisierung». Pascal Zuberbühler sieht dies genau so: «Es muss eine Bindung zwischen Goalies und Verteidigerinnen geben. Das geht aber nicht, wenn der Trainer die Torhüterinnen mit der Goalietrainerin auf den Nebenplatz schickt.»
Auch das könnte eine Erklärung für Böcke sein. Kann sich die Torhüterin nicht auf ihre Verteidigung verlassen oder weiss nicht, wo ihre Vorderleute sich jeweils hinbewegen, wenn sie am Ball ist, steigt das Risiko auf Fehlpässe oder Ballverluste. Und solche führen bei den Goalies oftmals zu vermeidbaren Gegentoren. Jedoch gebe es auch hier grosse Fortschritte. Zuberbühler lobt zum Beispiel Spanien: «Bei Cata Coll ist beeindruckend, wie verbunden sie mit dem Team ist. Wie das System und auch das Positionsspiel drin sind.» Und an der WM 2023 sei auch die Schweizerin Thalmann hervorragend ins Ballbesitzspiel eingebunden gewesen.
Ohnehin sei die Entwicklung in den letzten Jahren enorm. «Die Technik, die Fitness, das Treffen von Entscheidungen, aber auch die Spielintelligenz und wie involviert die Goalies im Spiel sind.» All das habe sich gemäss Zuberbühler stark verbessert. So werde auch die Dichte auf hohem Level immer grösser, wie Gaëlle Thalmann findet. «Es gibt immer mehr gut ausgebildete Goalies, die entscheidend sein können.» In ihren Augen habe es bei der Spielauslösung und dem Spiel mit dem Ball am Fuss deutliche Verbesserungen gegeben – auch weil die jüngeren Goalies schon damit aufgewachsen sind. In der Schweiz habe das auch mit der Arbeit von Patrick Foletti, dem Nati-Goalietrainer der Männer, und Thierry Barnerat zu tun, die gemeinsam eine einheitliche Trainingsphilosophie entwickelt haben.
Dennoch gebe es noch Potenzial. So sagt Thalmann: «Die Positionierung im Raum sowie im Tor, je nachdem, wo der Ball ist, oder ob jemand im Strafraum ist, wurde schon besser, aber da gibt es noch viel Luft nach oben.»
Klar ist jedoch, dass es immer solche Tore geben wird. Das ist auch das Los eines Goalies, wie Kathrin Lehmann sagt: «Jeder Gurkenball kann ein Riesenei werden.» Fehler passieren, bei den Frauen wie auch den Männern. Viele Leute könnten das richtig einordnen, aber es gibt auch solche, «die es lässig finden, das zu bewerten», sagt Lehmann.
In den Augen von Thalmann werde «in gewissen Situationen fieser auf den Frauenfussball draufgehauen». Lehmann fügt an: «Für mich ist einfach wichtig, dass es fair ist. Ich kann auch die Fehler der Männer zusammenschneiden und einen Clip daraus machen.» Am Ende seien diese aber schlicht Teil des Spiels. Für die schweizerisch-deutsche Doppelbürgerin ist deshalb klar: «Wer Fussball mit dem Herzen schaut, nimmt solche Fehler zur Kenntnis und sagt: ‹Weiter geht's.›»