Er hat sie noch immer, diese Momente, in denen er unbezwingbar scheint. Jene Augenblicke, in denen man den Stürmern die Ungläubigkeit darüber, dass dieser Schuss gerade nicht im Tor gelandet ist, regelrecht ansieht. Die Situationen, in denen man sofort weiss, weshalb Manuel Neuer einst der beste Goalie der Welt war. Auch am Freitagabend gegen Griechenland zeigte er eine Wahnsinnsreaktion, als er den Ball innert Kürze gleich doppelt parierte.
Doch es häufen sich eben auch die Fehler, gar Patzer. Die Szenen, in denen sich zeigt, dass der 38-Jährige nicht mehr ganz auf der Höhe seines Schaffens ist, seinen Zenit überschritten hat. Auch eine solche gab es gegen Griechenland zu sehen. Schon gegen die Ukraine hätte er am Montag beim 0:0 fast ein Gegentor verschuldet.
Und so ist im kritikfreudigen – manchmal gar etwas selbstzerstörerisch anmassenden – Deutschland eine Debatte über die Tauglichkeit des Weltmeister-Goalies von 2014 entstanden. Gegen Griechenland ist Deutschland gerade noch mit einem blauen Auge davongekommen. Dank eines Tors von Pascal Gross in der 89. Minute siegte das Team von Julian Nagelsmann 2:1.
Während ein solcher Kampfsieg der Moral auch guttun kann, fragen sich jetzt viele der fast 84 Millionen Bundestrainerinnen und -trainern, ob denn nicht Marc-André ter Stegen die bessere Wahl im Tor wäre. Schliesslich kann man sich an der EM spätestens in der K.o.-Phase keine Ausrutscher des Schlussmanns mehr leisten.
Das Fachmagazin Kicker verpasste Neuer aufgrund seiner Leistungen nun zweimal miserable Noten. Gegen Ukraine reichte es zwar noch für eine knapp genügende 4, gegen Griechenland wurde die Leistung des Bayern-Goalies aber mit einer 4,5 bewertet und damit als ungenügend angesehen. Schon im Vorfeld der beiden Testspiele schrieb der Kicker, dass Neuer bei Bayern München einige Gegentore verschuldet hatte und seinen Konkurrenten in Sachen Form hinterherhinkt. Gerade der Patzer im Rückspiel des Champions-League-Halbfinals gegen Real Madrid sorgte für Kritik.
Ein Blick in die Kommentarspalten der sozialen Medien zeigt ebenfalls, dass die Kritik an Neuer immer stärker und vor allem häufiger wird. In einer Umfrage von Bild meinte eine deutliche Mehrheit (über 70 Prozent) der über 90'000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, dass sie lieber ter Stegen im Tor hätte. Der Barça-Keeper äusserte deutlich, dass er sich eigentlich für den besseren Kandidaten hält: «Die Entscheidung des Trainers gilt es zu akzeptieren und respektieren, auch wenn ich nicht einer Meinung mit ihm bin.»
Nagelsmann lässt sich von alledem aber nicht beirren – ebenso wenig wie vom neuerlichen Patzer seiner Nummer 1. Der 36-jährige Trainer stärkte Neuer nämlich auch nach dem Spiel gegen Griechenland den Rücken: «Ich lasse da keine Diskussion aufkommen, auch, wenn es jeder probiert.» Also dürfte Neuer gegen Schottland, Ungarn und auch im dritten Gruppenspiel gegen die Schweiz im Tor stehen.
Dieses letzte Spiel wird auch das Aufeinandertreffen zwischen Neuer und Yann Sommer, der ihn während eines halben Jahrs ersetzte und einige Male harsch kritisiert wurde. Unter anderem wurde Sommer wegen seiner für einen Goalie eher geringen Körpergrösse von 1,83 m die Tauglichkeit als Top-Torhüter abgesprochen. Dies kam bei Schweizer Fussballfans überhaupt nicht gut an, weshalb sich viele nun bestätigt fühlen und ins Fäustchen lachen dürften.
Zumal Sommer nach seinem Weggang von den Bayern im letzten Sommer bei Inter Mailand glänzte und den Meistertitel holte. In München wurde ihm zuvor keine Chance auf den Stammplatz im Tor in Aussicht gestellt, sobald der zehn Zentimeter grössere Neuer von seiner Verletzung genesen sein werde. Dies war dann im Oktober der Fall, als Sommer bereits seit zwei Monaten weg war. Neuer kehrte sofort ins Münchner Tor zurück und zeigte teilweise herausragende Leistungen – hatte jedoch auch Schwächephasen.
Auch aktuell scheint er sich in seiner solchen zu befinden. Damit droht das Standing und die Unantastbarkeit des fünffachen Welttorhüters dem Gastgeber zum Verhängnis zu werden.
Wie auch immer, uns soll es recht sein.