Fussball und Luftschutzbunker, das sind zwei Begriffe, die sich eigentlich nie im gleichen Satz treffen, weil sie kein bisschen zusammengehören. Das war auch in der Ukraine bis vor ein paar Monaten so, doch dort hat sich alles verändert, seit die Russen über das Land hergefallen sind.
Und so kommt es, dass Vadym Milko, der Captain des FC Kolos Kovalivka, irgendwann auf den Luftschutzbunker zu sprechen kommt. Er sagt, dass es einen gebe beim Stadion seines Klubs, der in der obersten ukrainischen Liga antritt. Alles sicher also, man könnte gut spielen in Kovalivka, fügt Milko noch an. Luftschutzbunker und Fussball, in einem Satz, ganz selbstverständlich.
Im Februar, als die Russen sein Land attackierten, bereitete sich Milko mit seinem Team gerade auf den Start der Rückrunde vor. Am 26., einem Samstag, hätte es wieder losgehen sollen. Doch dann rollten am 24., einem Donnerstag, russische Panzer ins Land. Flogen Flugzeuge und Helikopter Angriffe.
Die Fussballsaison wurde zuerst verschoben und dann abgebrochen, und der FC Kolos verwandelte sich von einem Fussballverein in ein Hilfswerk. Der Mannschaftsbus brachte Flüchtlinge in den Westen, der Präsident stiftete der Armee Fahrzeuge, die Spieler verteilten Brot und andere Güter. Manche griffen zur Waffe, andere verloren ihr Haus. Das Dorf des Fitnesstrainers wurde überfallen, sein Haus besetzt.
Er wurde von den Russen in den Keller gesperrt, doch längst ist er wieder frei, die Feinde abgezogen. Und nun rollt auch der Ball in der Ukraine wieder, seit letzter Woche. Vadym Milko, 36 Jahre alt, hat das schon oft erlebt, eine neue Saison, mit all ihren Möglichkeiten. Der FC Kolos ist gut gestartet, zwei Spiele, zwei Siege, zweiter Platz, aber derzeit geht es um mehr als das, das weiss auch Milko.
«Wir spielen für die Ukrainer, für die Ukraine», sagt er zum Beispiel. Oder, dass die Armee und die Leute im Land positive Emotionen bräuchten. Der Fussball sie geben könne. Und sie deshalb spielten.
Fussball, nur ein Spiel? Das stimmt sonst schon nicht, und in diesen Tagen in der Ukraine noch viel weniger. Als Schachtjor Donezk und Metalist 1925 Charkiw letzte Woche die Saison eröffneten, hüllten sich die Fussballer in Flaggen in blau und gelb, so wird das nun vor jedem Spiel sein. Es gab eine Rede von Präsident Selenski auf der Grossleinwand. Den Anstoss führte ein Soldat aus, der in der Schlacht um Mariupol verletzt worden war. Auch in der Stadt am Schwarzen Meer gab es einen Erstliga-Verein, doch jetzt, nachdem die Stadt von den Russen erobert worden ist, gibt es ihn nicht mehr.
«So lange wir spielen, sind wir unbesiegbar», mit diesem Motto hat der ukrainische Fussballverband den Neustart überschrieben. Es gab Überlegungen, nach Polen auszuweichen oder in die Türkei. Doch die ukrainischen Vereine entschieden, dass sie zu Hause spielen wollen. Das Spiel als Symbol für Widerstand, für Ausdauer, für Kampfgeist, aber auch: für Normalität, eine andere zwar, aber doch eine Form davon.
Wie diese neue Normalität aussieht, lässt sich auf dem Instagram-Account des FC Metalist 1925 Charkiw beobachten. Es gibt dort ein Bild von Soldaten, die ein Fussballspiel anschauen und eines von einem Kämpfer, der sich das Vereinslogo an die Uniform geheftet hat. «Ruhm den Streitkräften» kommentiert der Klub. Beim Spiel gegen Schachtjor trugen seine Spieler das Wappen der Armee auf der Brust.
Metalist Charkiw machte sich vor ein paar Jahren in Europa einen Namen, mehrmals schaffte der Klub aus der Ostukraine den Sprung in die K.o.-Runden der Europa League. Einmal, 2012, erreichte er gar den Viertelfinal. Doch dann verschwand der Verein von der Bildfläche, weil ihm das Geld ausging.
Der FC Metalist 1925 versteht sich als Nachfolger des Klubs, er wurde von Fans ins Leben gerufen und von ehemaligen Angestellten. Anton Ivanov heisst einer von ihnen, er sagt, der Klub sei mehr oder weniger sein Leben. Der 39-Jährige ist stellvertretender Generaldirektor des Klubs, er kümmert sich um die Finanzen, um Sponsoren, den Ticketverkauf, eigentlich.
Doch Zuschauer sind in der Ukraine jetzt keine mehr zugelassen. Spiele dürfen nur stattfinden, wenn die Armee sie bewilligt. Und nur in Stadien, in denen der Luftschutzbunker maximal 500 Meter entfernt liegt. Bei einem Luftalarm werden die Spiele unterbrochen, Spieler und Offizielle suchen im Schutzbunker Zuflucht.
Ivanov beschäftigt sich jetzt vor allem mit Sicherheitsfragen. Er sagt, dass das alles natürlich neu sei, Fussball und Bombenalarm, Spiele unter Kriegsrecht. Aber er sagt auch, dass die Ukrainer jetzt schon seit sechs Monaten mit Angriffen lebten. «Wir haben gelernt, damit umzugehen», sagt er. Die Spiele von Metalist 1925 gingen bisher ohne Zwischenfälle über die Bühne, aber es gab da in der Woche des Neustarts auch dieses eine Spiel, das viereinhalb Stunden dauerte. Weil es immer wieder Luftalarm gab, mussten die Spieler insgesamt 145 Minuten im Bunker verbringen.
Der FC Metalist 1925 bestritt am Samstag sein erstes Heimspiel, aber er konnte das nicht zu Hause in Charkiw tun. Es ist dort, weit im Osten, gleich an der Grenze mit Russland, viel zu gefährlich, bis heute. Spieler und Funktionäre sind schon lange weg aus der Stadt, auch Anton Ivanov hat sie im Frühling mit seiner Familie verlassen. Das Trainingszentrum wurde im Juni von den Russen zerbombt, es gibt im Internet ein Video davon: Trümmerteile auf dem Rasen, zersplitterte Fenster, zerstörte Büros.
Für den Moment trainiert Metalist 1925 in der Nähe von Kiew, aber was die Zukunft bringt, weiss niemand, auch Ivanov nicht. In der Nachwuchsakademie seines Klubs spielten einst 400 Junioren, aber jetzt sind die allermeisten weg. Teilweise sind ganze Teams zusammen ausgereist, spielen jetzt in Polen oder Deutschland. Ivanov hat mitgeholfen, das zu organisieren, schweren Herzens, weil es das Fundament des Vereins war, das er da ausser Landes schaffte. Und niemand weiss, ob die Jungen je zurückkehren werden. «Wir hoffen es, aber wir können sie natürlich nicht zwingen», sagt Ivanov.
Er ist vor allem froh, dass die Profis wieder spielen, dass jene, die geblieben sind, eine Perspektive haben. Es geht nun um die Zukunft des ukrainischen Fussballs, nicht mehr und nicht weniger. Ivanov hofft, dass alles gut ausgeht. Die Sponsoren und der Eigentümer zahlen, solange die Ticketing-Einnahmen fehlen. Die Saison zu Ende gespielt werden kann. Und irgendwann der Luftschutzbunker keine Rolle mehr spielt in seinem Leben. (aargauerzeitung.ch)