Zwölf Jahre war Reto Nydegger bei Swiss Ski, ehe er, etwas verstimmt durch die «Österreicher-Invasion», in Norwegen anheuerte. Dort betreut er im zweiten Jahr Svindal, Jansrud und Kilde. Sie errangen in den ersten fünf Speed-Rennen vier Siege und acht Podestplätze.
Reto Nydegger, Sie sind Berner Oberländer und hoffen an ihrem Heimrennen, dass die Schweizer nicht gewinnen – eine spezielle Konstellation.
Reto Nydegger: (Lacht.) Selbstverständlich hoffe ich, dass unsere Norweger gewinnen. Aber ich fiebere auch mit den Schweizern mit. Ich gönne allen den Erfolg. Als in Val Gardena Max Franz mit einer hohen Nummer vier Hundertstel schneller fuhr als Svindal, war das für uns zwar ärgerlich, aber ich habe auch Franz den Sieg gegönnt
Was ist das Erfolgsgeheimnis der Norweger?
Diese Frage habe ich mir auch gestellt. Ich glaube, das Team und der Teamgeist sind die grosse Stärke. Es besteht eine Philosophie, vom Athlet bis zum Trainer-Staff, besser sein zu wollen als die andern. Alle ziehen am gleichen Strick. Es ist wie ein Puzzle, jeder trägt seinen Teil dazu bei.
Was in einem kleinen Team einfacher umsetzbar ist als in einem grossen.
Das ist so. Auch unser Team wird grösser und einige Sachen werden komplizierter. In der Schweiz oder in Österreich ist das anders: Da sucht man bewusst die Breite. Dabei stellt sich die Frage: Verliert man so nicht an Niveau? Ein Beispiel: Im Leistungszentrum hat man zehn Fahrer, zwei sind gut, acht fahren mit. Auf wen richtet man das Training aus? In Norwegen werden gezielt die Spitzenleute gefördert.
In Norwegen gibt es nicht einmal ein C-Kader. Woher kommt der Nachwuchs?
Der wird in den FIS-Rennen in Norwegen oder Mitteleuropa herausgefiltert, auf privater Basis oder über die Skigymnasien. Wir sagen dem Wildwest. Die jungen Athleten können hingehen, wo sie wollen: Die mit den besten Punkten werden erfasst, sofern sie die konditionellen Auflagen erfüllen. Wenn einer diese nicht erfüllt, kann er noch so gut sein, der hat keine Chance für eine Aufnahme ins Europacup-Team.
Auch wenn einer serienweise Rennen gewinnt?
Auch dann nicht. Die erfüllte Konditionsnorm ist zwingende Voraussetzung. Es existiert ein straffes Punktesystem: Mit 400 Punkten können sie sich empfehlen für FIS-Rennen, mit 500 für den Europacup und mit 600 für den Weltcup. Das ist ein einfacher Test mit verschiedenen Elementen, den man in jeder Turnhalle machen kann.
Was ist der Unterschied zur Schweiz?
Da gibt es solche Tests auch. Zu meiner Zeit hiess er Swiss-Ski-Powertest. Aber das System funktionierte nicht, weil nicht alle dahinterstanden. Man diskutierte über einzelne Übungen und fand keinen roten Faden. Lara Gut hat beispielsweise den Test nicht bestanden. Sie konnte, da sie sich mitten im Wachstum befand, praktisch keine Übung richtig machen und war trotzdem die beste Skifahrerin.
Dann wäre Lara Gut in Norwegen gnadenlos durch den Rost gefallen?
Deshalb ist es schwierig, zu sagen, welches der richtige Weg ist. In Norwegen hat man nun mal dieses System und fährt die harte Linie. Dadurch entsteht eine schmalere Spitze, in der Schweiz dafür eine grössere Breite.
Noch ein Wort zu Lara Gut. Sie waren ihr erster Trainer im Europacup. Wie nahmen Sie sie wahr?
Es war jenes Jahr, in dem sie sechs Europacuprennen gewann und bei ihrer ersten Weltcup-Abfahrt in St.Moritz aufs Podest «flog». Es war ein tolles Jahr mit ihr. Ich hatte sie gern. Sie war auch super fürs Team. Der Vater war noch nicht dabei. Er ist erst dazu gekommen, was auch richtig war, als sie vom Erfolg überrumpelt wurde. In diesem Herbst trainierte Lara zwei Wochen in Chile mit dem norwegischen Team.
Sind Norweger von der Mentalität her anders als Schweizer?
Die norwegischen Sportler, die das strenge Selektionssystem durchliefen, sind alle extrem leistungsorientiert. Aber auch gute Skifahrer sind dabei auf der Strecke geblieben. In der Schweiz entsteht zuweilen eine Komfortzone: Man befindet sich bald in irgendeinem Leistungskader, in dem – um beim erwähnten Beispiel zu bleiben – von zehn Fahrern zwei wirklich vorwärtskommen wollen. Die andern schwimmen mit, finden es cool und haben Spass.
In Norwegen wurde zuletzt Leistungsoptimierung auch mit zweifelhaften Mitteln betrieben. Die Top-Langläufer Martin Johnsrud Sundby und Therese Johaug waren in mysteriöse Dopingfälle verwickelt.
Mir ist nicht bekannt, was bei den Nordischen genau lief. Bei den Alpinen achtet man bei der Ernährung sehr genau darauf, was man nimmt. Sie würden nie einen Vitaminriegel essen, denn sie hier kaufen. Und auch nie in einer Apotheke ein Medikament kaufen. Wir Trainer sind nach diesen Fällen mit Johaug und Sundby vom Verband in Mails auf dieses Thema sensibilisiert worden.
Der norwegische Verband schwimmt nicht im Geld.
Nein, aber es ist besser geworden. Man muss jeden Franken umdrehen. So hatten wir im letzten Jahr ein Kondi-Camp in Italien abgesagt, aus Solidarität gegenüber dem Europacup-Team der Frauen, das aus finanziellen Gründen aufgelöst werden musste. Obwohl wir nur die Flüge hätten bezahlen müssen. So trainierten wir ausschliesslich in Norwegen, auch eine Woche in Kildes Weekend-Häuschen.
So hat man auch Verständnis, dass der Verband im Sponsoring-Streit mit Henrik Kristoffersen unnachgiebig ist.
Ich denke schon. Dem Verband steht grundsätzlich dieses Recht zu. Wie es herauskommt, werden wir sehen.
Die Gründe ihres Weggangs aus der Schweiz sind bekannt. Sie wollten in Ihrer Karriere auch mal im Ausland Erfahrungen sammeln. Aber nicht nur ...
Das war der Hauptgrund. Ich wollte mich weiterentwickeln. Aber dann kamen noch ein paar Faktoren zusammen wie jene Österreicher-Invasion. Ich war nicht prinzipiell dagegen. Aber wie man damit umgegangen ist und als Schweizer Trainer immer zuletzt gefragt wird, fand ich nicht richtig.
Jetzt gibt's auf Weltcup-Stufe praktisch keine Schweizer Gruppentrainer mehr.
Meines Wissens noch einen, Jörg Roten mit Carlo Janka. Der Erfolg hat ja nichts mit der Nationalität der Trainer zu tun. Aber ich habe schon zu meiner Zeit die Verantwortlichen darauf hingewiesen, dass man Schweizer Trainer aufbauen und ihnen eine Chance geben sollte. Man hatte den Eindruck, alles, was von aussen kommt, ist gut und was aus der Schweiz kommt, ist nichts wert.
Aber eine Rückkehr ist nicht ausgeschlossen?
Es müsste ein Job sein, der interessant und herausfordernd ist – wie jetzt dieser in Norwegen. Und das Klima im Team muss stimmen. Man sollte sich gegenseitig vertrauen können, um gemeinsam ein Ziel zu verfolgen.