Herr Sutter, auf den Tag genau vor
100 Tagen haben Sie Ihren Job als
Sportchef des FC St.Gallen angetreten.
Wie ist es Ihnen seither ergangen?
Alain Sutter: Ich erlebte diese Zeit als
sehr herausfordernd und unglaublich
spannend. Es ist jedoch vieles genau so
eingetreten, wie ich es erwartet habe.
Wie sind Sie in der Ostschweiz
aufgenommen worden?
Sehr herzlich, und dafür bin ich dankbar.
Sie haben mit der Klubführung einige
harte Personalentscheidungen getroffen.
Der eine oder andere Mitarbeiter
musste den Klub verlassen. Wie
schwer ist Ihnen das gefallen?
Jemanden zu entlassen, ist nie angenehm.
Aber jede Entscheidung ist aus Überzeugung
gefallen.
Ist der Verein nun so aufgestellt, wie
es sich die neue Führung vorstellt?
Wir sind in einem rollenden Prozess, deshalb
kann ich die Frage nicht abschliessend
beantworten. Ich bin noch immer
am Beobachten und Datensammeln. Es
kann noch eine Weile dauern, bis wir wissen,
ob alles zusammenpasst.
Ihre Beziehung zu Trainer Giorgio Contini soll
sachlich und kühl sein.
Wir pflegen ein ganz normales Verhältnis. Ich sehe null Probleme
Der FC St.Gallen ist gegenwärtig auf
einem Europacupplatz klassiert. Welche
Bedeutung hätte eine Präsenz auf
der internationalen Bühne?
Sie könnte für den Verein sehr wichtig
sein. Einmal auf der finanziellen Ebene.
Wenn YB das Double holt, ist der Tabellendritte
direkt für die Gruppenphase in
der Europa League qualifiziert. Die Europa
League wäre aber auch sportlich und
imagemässig wichtig, weil dann der
Standort St.Gallen für den einen oder anderen
Spieler spannender wäre. Und es
gibt noch einen dritten Aspekt: Die Mannschaft
bekommt Selbstvertrauen und Moral.
Diese nimmt sie in die neue Saison
mit und es gibt einen extra Start-Kick
Ist Ihr Jobwechsel am Jahresende aus
dem Nichts gekommen, oder haben
Sie mit dem neuen Präsidenten
Matthias Hüppi, Ihrem langjährigen
Kollegen beim Fernsehen, ein solches
Szenario in den letzten Jahren auch
mal durchgespielt?
Nein. Das Ganze kam wie aus dem Nichts
Aber Sie mussten nicht lange hirnen.
Ich habe mir schon meine Gedanken
gemacht. Doch ich bin ein spontaner
Mensch, der sich selber und seinem Gefühl
vertraut. Ich fand es spannend, und
die Rahmenbedingungen passten.
Ich konnte den Verantwortlichen präsentieren,
wie ich ticke und den Job interpretieren
würde. Sie befanden das für gut.
Und dann passte es für mich im Gesamtpaket.
Sie gingen kein Risiko ein?
Überhaupt nicht.
Sie hatten doch eine gut laufende
Coaching-Praxis.
Ich hatte ein erfülltes Leben und beim
Fernsehen, in meiner Praxis und mit Vorträgen
Aufgaben, die ich sehr gerne hatte.
Da musste das Neue schon etwas sein, das
noch spannender war.
Was versprach noch mehr Spannung?
Als Sportchef kann ich zwar ganz viel
machen, was ich zuvor auch getan habe.
Ich habe viel mit Coaching und dem Begleiten
von Menschen zu tun. Meine
Ideen nun aber in einem anderen Umfeld,
im Fussball auf professioneller Ebene,
umzusetzen, das finde ich schon
sehr spannend.
Wann und wo haben Sie eigentlich
diese Fähigkeiten und Kenntnisse erworben?
Ich habe mich schon während meiner aktiven
Karriere als Profi mit diesen Themen
auseinandergesetzt. Es gab dann einen
nahtlosen Übergang, als ich mit dem Fussball
aufhörte. Ich habe verschiedene Ausbildungen
absolviert. Mit dem Bücherschreiben
kam schliesslich der Punkt, ab
dem ich diesen Weg professionell ging.
Wie sehr müssen Sie sich nun aber
auch mit administrativem Kram befassen,
mit Reglementen und Verträgen?
Da muss ich mich schon reinlesen. Ich bin
allerdings nicht der Büro-Sportchef. Ich
strukturiere und baue das Ganze so auf,
dass ich Zeit habe, um meine Stärken einzusetzen.
Wir haben zum Beispiel einen
Anwalt, der die Verträge macht.
Wie sehr hilft Ihnen Ihre bisherige Tätigkeit als Mentalcoach?
Ich war nicht Mentalcoach, sondern
Stressmanager. Da geht es sehr stark darum,
Leute in schwierigen Phasen in ihrem
Leben zu begleiten. Profifussball hat natürlich
das Potenzial für viel Stress. Darum
hilft mir das schon sehr viel, wenn ich
Leute in Drucksituationen begleite.
Vor ein paar Wochen hat der deutsche
Weltmeister Per Mertesacker in einem
Interview für Aufsehen gesorgt, als er
beschrieb, wie schwer er sich mit dem
immensen Druck im Fussball tue. Die
Öffentlichkeit denkt, die Profis hätten
einen Traumjob und verdienten erst
noch eine Menge Geld damit. Welches
sind Ihre Beobachtungen?
Ich nehme wahr, dass dieser Druck da ist.
Ich habe es ja selber erlebt. In diesem Umfeld
ist die Gefahr extrem und latent vorhanden,
dass der Druck zu gross und ungesund
wird.
Wird dieser Problematik im Fussball
zu wenig Rechnung getragen?
Aus meiner Erfahrung weiss ich, dass man
nicht nur im Sport diesem Bereich zu wenig
Beachtung schenkt, sondern allgemein
im Leben
Was können Sie in dieser Hinsicht
dem Personal des FC St.Gallen geben?
Eigentlich nichts. Jeder muss sein Problem
selber lösen
Aber Sie könnten doch eine Hilfe sein.
Ich kann eine Unterstützung sein, ja. Es
geht darum, den Menschen gewisse Dinge
bewusst zu machen.
Manche Spieler leisten sich privat
einen Mentalcoach. Würden Sie das
jedem Profi empfehlen?
Selbstverständlich. Für mich gehört es
grundsätzlich zu jedem Berufssportler,
dass er einen Sportpsychologen, einen
Mentaltrainer oder Stresscoach an seiner
Seite hat. Es müsste heute Standard sein.
Ist das beim FC St. Gallen der Fall?
Nein, wie nirgendwo in der Super League.
Um es zu verdeutlichen: Jeder Spieler müsste
seinen individuellen Mentaltrainer haben.
Wie nahe sind Sie an der Mannschaft?
Ich bin keiner, der täglich in der Kabine
sitzt und den Gesprächen zuhört. Ich pflege
eine gewisse Distanz und eine gewisse
Nähe. Man sieht und spürt mich. Ich
hocke dem Team aber nicht auf der Pelle.
Sie selber wirken ausbalanciert. Gibt
es nichts, was Sie wütend macht?
Selbstverständlich gibt es das. Wie bei jedem
anderen Menschen auch.
Aber es bricht dann nicht wie ein
Vulkan aus Ihnen?
Auch das kann passieren. Ich habe viele
Facetten. Durch meine ganze Ausbildung
weiss ich natürlich auch, warum es die
Ausbrüche gibt. Ich kann sie einordnen
und wieder zu mir zu kommen. Auch ich
kann mit Schiedsrichtern hadern.
Wer ein Super-League-Team trainieren
will, benötigt eine lange und seriöse
Ausbildung. Als Sportchef braucht
man dies nicht. Warum?
Ich bin froh, dass ich meinen Job mit 50-jähriger Lebenserfahrung angetreten habe.
Ich war viele Jahre im Fussball, baute
die Coaching-Praxis auf und war eine Zeit
weg vom Fussball in der Privatwirtschaft
tätig. Ich bin froh um diesen Erfahrungsschatz.
Mein Rucksack ist prall gefüllt. Ohne
diesen hätte ich den Job nicht machen
wollen. Ob ich eine spezielle Sportchefausbildung
bräuchte? Ich denke nein. Für
mich hätte es keine bessere Ausbildung
geben können, als jene, die ich hatte.
Sie waren bis zuletzt Sportchef der
GC-Frauen. Profitieren Sie davon?
Es hilft alles. Ich hatte auch dort mit Menschen
zu tun, mit dem Zusammenstellen
einer Mannschaft und eines Trainerteams.
Ich machte genau das Gleiche wie jetzt,
aber einfach in einer anderen Dimension.
Sie haben Junioren trainiert und Frauen
in der NLA. Hatten Sie nie Lust, eine
Trainerkarriere einzuschlagen?
Ich finde den Trainerberuf super spannend,
aber ich habe mit meinem Coaching-Job
einen anderen Weg gewählt. Ein
Trainer muss seinen Fokus voll auf die
Ausbildung richten. Das wollte ich nicht.
Aber Erfahrungen und Ideen aus der
Coaching-Praxis liessen sich doch als
Trainer wunderbar anwenden.
Gerade
im Bereich der Menschenführung liegt
das grösste Potenzial.
Richtig, und genau deshalb ist bei allem,
was ich als Sportchef mache, exakt dies
der Schwerpunkt
Freut es Sie als Berner, der auch einmal
eine Saison im Wankdorf gespielt
hat, dass YB Meister wird?
Ich finde es megacool. YB arbeitet nachhaltig
und wird belohnt dafür. Die Art und
Weise freut mich. In Bern wird ein hervorragender
Fussball gespielt. Mein persönliches
Befinden ändert sich deswegen aber
auch als Berner nicht.
Wenn jedoch wie zuletzt gegen YB
17'500 Zuschauer in den St.Galler
Kybunpark kommen, dann schlägt Ihr
Herz vermutlich schon höher.
Das war ein Happening. So, wie es in der
ersten Halbzeit war, stelle ich mir das vor:
Ein volles Stadion, vier Tore, die Leute gehen
mit, die Mannschaft spielt vorwärts
und versucht Tore zu schiessen.
Und irgendwann soll ein Titel her.
Das muss nicht unbedingt sein. Ich möchte
zuvorderst, dass die Leute Freude haben,
wenn sie die Heimspiele besuchen.
Wenn wir es schaffen, dass 17'500 Fans zu
jedem Heimspiel kommen, dann haben
wir einen guten Job gemacht und dann ist
auch die Chance grösser, irgendwann einen
Titel zu gewinnen.