Das Duell zwischen Nino Schurter und Mathias Flückiger um den Sieg am Heimweltcup in Lenzerheide warf hohe Wellen. Die zwei Schweizer Ausnahmesportler landeten in Führung liegend nach einem Überholmanöver von Flückiger miteinander im Dreck und der Berner landete als vermeintlicher Auslöser des Sturzes auf der Anklagebank. Der 33-Jährige wurde in Kommentaren und in den Sozialen Medien angefeindet. Nachdem er drei Wochen nichts dazu gesagt hat, redet Mathias Flückiger nun erstmals darüber.
Mathias Flückiger, wer sind Sie?
Das ist witzig! Ich habe mir genau eine solche Frage vorgestellt. Fragen Sie mich nicht wieso. Wer ich bin? Ein lebensfreudiger, emotionaler Mensch. Ich kann für eine Sache – und das muss nicht zwingend der Sport sein – eine ausserordentliche Leidenschaft entwickeln und mich in ein Thema enorm vertiefen. Seit Jahren steht diesbezüglich der Sport an erster Stelle. Dort lebe ich meine Leidenschaft und auch meine Detailversessenheit aus. Mountainbike bietet enorm viele verschiedene Facetten, mit denen ich mich beschäftigen kann. Ich finde immer etwas, worin ich besser werden kann. Das treibt mich an.
Was hat Sie als Sportler und als Mensch geprägt?
Sicher meine Jugend. Ich bin auf einem Bauernhof aufgewachsen, konnte und musste bei der Arbeit mithelfen. Dort wurde mir beigebracht, auch bei unangenehmen Dingen durchzuhalten, was ebenfalls im Sport zum Tragen kommt. Im Sport geprägt haben mich die Hochs und Tiefs in meiner Karriere. So habe ich gelernt, auch mit Sachen umgehen zu können, wie sie zum Beispiel in den letzten Wochen passiert sind. All die Aufregung in Lenzerheide und die Covid-Erkrankung zu einem Zeitpunkt, in welchem ich mich in absoluter Topform befand. Inzwischen weiss und akzeptiere ich, dass solch unerwartete Dinge jederzeit passieren können. Man kann als Sportler nie nur oben auf einer Welle reiten. Gerade diese Herausforderungen machen den Sport und das Leben spannend.
Seit ihrem ersten Mountainbike-Rennen sind 25 Jahre vergangen. Was hat Sie so lange bei diesem Sport gehalten?
Ich habe mich als Jugendlicher nicht nur auf den Mountainbike-Sport fokussiert. Ich war nie verbissen, konnte daneben meine Jugend ausleben. Das ist auch ein Grund, wieso ich mich im Verlauf meiner Elite-Karriere steigern konnte, nachdem ich am Ende meiner Nachwuchszeit zum ersten Mal sportlich durchgestartet bin. Ich reise dank des Sports überall auf der Welt herum. Und auch neben den Rennen ist das Velo ein Verkehrsmittel, das mich mit seiner Vielseitigkeit fasziniert.
Wie wichtig war Ihr älterer Bruder Lukas für Ihren Weg?
Er ist ein riesiger Teil auf meinem Weg. Er war der Grund, wieso Mountainbike bei uns zum Thema wurde. Lukas hat die Leidenschaft dafür in die Familie gebracht. Wir konnten zusammen trainieren, haben uns super unterstützt und gefordert. Auch wenn wir das Heu nicht immer auf der gleichen Bühne hatten. Aber vielleicht war gerade die Würze in unserer Beziehung ein Erfolgsfaktor.
Sie haben mit WM-Titeln im Nachwuchs früh Ihr ausserordentliches Talent bewiesen. Wieso mussten Sie 30 Jahre alt werden, um auf höchster Stufe Rennen zu gewinnen?
Dafür sind verschiedene Prägungen verantwortlich, die mich zwischenzeitlich davon abgehalten haben, erfolgreich zu sein. Mit Prägungen meine ich nicht unbedingt Zweifel. Eher das Selbstvertrauen, meinen Weg konsequent zu gehen. Auch die Fähigkeit, anderen Menschen zu vertrauen. Es dauerte seine Zeit, bis ich mein Umfeld zusammengestellt hatte. Durch diese Unterstützung wuchs mein Selbstvertrauen. Ich stand mir auch oft im Weg – mit Dingen, die ich ausprobiert habe. Ich bin etwa punkto Material und Linienwahl Risiken eingegangen, die sich nicht bewährt haben. Dadurch konnte keine Konstanz entstehen. Es brauchte einen Reifeprozess als Grundlage für den heutigen Erfolg.
Sind Sie ein Mensch, der Zeit braucht, um Vertrauen zu gewinnen?
Das kann man genau so sagen. Es braucht seine Zeit, bis mich jemand überzeugen kann. Deswegen habe ich auch von Prägung gesprochen. Ich weiss nicht, von wo das anfängliche Misstrauen kommt. Es ist jedoch kein Zufall, dass ich seit Jahren mit den gleichen Personen zusammenarbeite. Ich weiss je länger, desto mehr genau, was mir guttut.
Die Rennen sind heute kürzer als vor 10 Jahren. Kommt Ihnen das entgegen?
Man könnte es inzwischen beinahe meinen. Ursprünglich hätte ich das nie gedacht, da ich eigentlich der typische Ausdauerathlet bin. Aber ich habe mich sicher gewandelt. Ich war vor zehn Jahren auch mehrere Kilos leichter. Die kürzeren Rennen sind intensiver geworden, aber ich kann heute sogar ein Short Race gewinnen, was ich noch vor wenigen Jahren als unmöglich erachtet hätte. Meine Anpassung an die Entwicklung der Sportart macht mich stolz.
Was hat sich sonst noch geändert im Mountainbike-Sport?
Sehr, sehr viel. Die Liste ist beinahe unendlich und die Entwicklungsschritte machen Welten aus. Die Velos von heute etwa wären vor zehn Jahren als Enduro-Velos bezeichnet worden. Heute ist auch die Funktionalität eines Velos viel wichtiger als allein der Faktor Gewicht. Auch die Fahrtechnik der Athleten ist massiv besser. Und auch die Sichtbarkeit unseres Sports. Heute kann man zudem ein Rennen im TV verfolgen, ohne dass es einem dabei langweilig wird, weil die Fahrer für Minuten im Wald verschwinden.
Müssen Sie nach dreimal Silber bei WM und einmal bei Olympia aufpassen, nicht auf diesen zweiten Platz abonniert zu werden?
Da habe ich keine Angst. Die Entstehung dieser zweiten Plätze war sehr unterschiedlich. Bei der WM 2019 hatte ich in Führung liegend einen technischen Defekt. Bei der WM 2020 war ich kurz vor dem Rennen krank. Das machte dieses Resultat zu einem grossen Erfolg. Und die Geschichte der letzten WM kennen wir. Bei Olympia kam ich nach einem Sturz eine Zeit lang aus dem Rhythmus. Aber Gedanken über ein Abonnement auf zweite Plätze schweben definitiv nicht in meinem Hinterkopf.
Im vergangenen Jahr waren Sie bis zur letzten Kurve auf Weltmeisterkurs? Wie fest hat dieses verwegene Überholmanöver von Nino Schurter geschmerzt?
Es hat ganz klar geschmerzt. Ich wollte Weltmeister werden, habe viel gut gemacht – aber leider nicht ganz alles. Ich hätte die Entscheidung früher suchen sollen. Das hat mich fast mehr geärgert als das, was in der letzten Kurve passierte. Dieser zweite Platz fühlte sich an wie eine Niederlage.
An der WM in Les Gets können Sie das ändern: Die Strecke liegt Ihnen?
Ich habe 2021 die Hauptprobe gewonnen. Die Charakteristik kommt mir entgegen. Ich freue mich auf das Rennen. Doch seit ich auch im Short Track gewinnen kann, weiss ich, dass ich für einen Sieg gar nicht unbedingt so viele Steigungsmeter benötige. Die Höhenmeter waren vorher immer ein wenig Teil der Chanceneinschätzung.
Neben Taktik, Tagesform und auch ein wenig Glück spielt die Gesundheit eine wesentliche Rolle für sportlichen Erfolg. Wie geht es Ihnen nach überstandener Covid-Infektion?
Gut. Ich konnte mehr als eine Woche lang nicht trainieren. Der Infekt war nicht einfach eine Erkältung. Ein Tag war sogar sehr übel – und ich würde behaupten, ich bin hart im Nehmen. Zum Wiedereinstieg habe ich mich strikt an das medizinische Protokoll von Swiss Olympic gehalten und nicht zu früh mit intensiven Trainings gestartet. Diese verliefen dann sehr erfreulich. Ich fühle keinerlei Nachwirkungen. Vielleicht kann ich die Infektion im Nachhinein als Pause betrachten, die mir neue Energie gab.
Mehr wehgetan als die Schmerzen durch das Virus haben Ihnen in den vergangenen Wochen die Reaktionen im Internet auf Ihren Sturz mit Nino Schurter in Lenzerheide. Erzählen Sie!
Die Entwicklung, welche Dynamik soziale Medien und Kommentare auf Online-Artikel auslösen können, ist erschreckend. Und ich will das gar nicht auf mein Beispiel beziehen. Niemand hinterfragt die Richtigkeit solcher Aussagen. Jeder kann rauslassen ohne Rücksicht auf die negativen Folgen, die dadurch entstehen. In meinem Fall tat es zwar weh, aber ich kann damit umgehen. Aber es gibt viele Menschen, die solche Angriffe nicht einfach wegstecken können. Solche Kommentare können Menschen bis in den Abgrund treiben. Mit dieser Entwicklung in unserer Gesellschaft habe ich sehr grosse Mühe.
Wie muss man als Betroffener mit dieser Form von Mobbing umgehen?
Man benötigt Zeit, um das zu verarbeiten. Am besten liest man es gar nicht. Ich hatte zum Glück sehr viele Leute, die mich unterstützt haben. Mich hat keine einzige Person aus meinem Umfeld für das kritisiert, was in der Lenzerheide passiert ist. Es ist das reale Leben, das zählt. Es sind die Menschen, die dich kritisieren und dir dabei in die Augen schauen können. Sich diesen Unterschied zwischen dem anonymen Leben im Netz und dem richtigen Leben vor Augen zu führen, halte ich für sehr wichtig. Aber diese Angriffe unter der Gürtellinie tun halt trotz allem weh.
Was sagt ein solches Verhalten über unsere Gesellschaft aus?
Obwohl es ja nur eine vernichtend kleine Minderheit ist, die so handelt, erhält diese in der Gesellschaft eine solch grosse Beachtung und verursacht einen derartigen Lärm. Es darf doch nicht passieren, dass diese Leute ein solches Gewicht erhalten. Dieses Phänomen hat sich bei Covid ebenfalls in erschreckender Art und Weise gezeigt.
Haben Sie Übergriffe angezeigt?
Nein, das habe ich nicht gemacht. Ich weiss auch nicht, was das bringen soll. Eine Anzeige stoppt keinen einzigen dieser Schreihälse.
Was sicher auch wehtat, ist, dass die Szene beim Heim-Weltcup mit Ihrem Charakter erklärt wurde?
Ja. Aber wer so etwas behauptet, hat sich keine Sekunde lang überlegt, um was es geht. Erstens hat ja niemand die Szene gesehen. Wie will er sich also eine Meinung dazu machen? Zweitens weiss auch niemand von ihnen, was alles vorher im Rennen bereits passiert ist. Und drittens hatte ich mich im Ziel emotional im Griff. Ich selber kann auf jeden Fall zu meinem Auftritt stehen. Ich habe Mühe, wenn mein Charakter infrage gestellt wird, denn für mich sind Fairplay und Ehrlichkeit ganz wichtige Leitlinien in meinem Handeln als Sportler und als Mensch.
Gab es eigentlich eine Aussprache mit Nino Schurter?
Ja, es gab eine Aussprache. Für mich ist die Sache erledigt und ich spreche deshalb in der Öffentlichkeit nicht mehr über Lenzerheide.
Sie haben 15 Jahre Ihrer Sportkarriere gemeinsam mit Nino Schurter verbracht. Da ist eine Frage zur Beziehung untereinander doch legitim und geht weit über das Thema Lenzerheide hinaus?
Solange man selbst keine Rennen gewinnt, will man den Konkurrenten, der vor dir ist, bezwingen. Wer nicht so denkt, hat nicht den Rennfahrer-Charakter. Und dieser Fahrer hiess in all den Jahren immer Nino Schurter. Ich wollte auch ganz oben stehen und grosse Rennen gewinnen. Das dauerte sehr, sehr lang.
Aber heute duelliert ihr euch auf Augenhöhe.
Ich weiss jetzt natürlich, dass es funktioniert, ihn im Rennen zu bezwingen. Aber man darf nicht vergessen: Der Kampf an der Spitze ist extrem eng. Einmal gewinnt man, einmal verliert man. Und es gibt mit Fahrern wie Colombo, Braidot, Dascalu, Hatherly, Valero Serrano oder Carod noch viele weitere sehr starke Konkurrenten.
Ihr seid also weder Freunde noch Feinde?
In einer Sportart, wo der Kampf Mann gegen Mann entscheidet, ist man Konkurrent. Nur Personen, die nichts von Spitzensport verstehen, sehen das vielleicht nicht so. Alles andere wäre nur gespielt. Wenn man als Skifahrer allein den Hang runterfährt, sieht die Situation vielleicht anders aus, denn dort kämpfst du gegen die Zeit. Das macht einen grossen Unterschied.
Haben Sie das Gefühl, dass es auch zukünftig ein gesunder Konkurrenzkampf mit Nino Schurter sein wird?
Ich kann nur für mich sprechen und weiss: An mir wird es nicht liegen.
Wie lange wird man Sie noch auf höchster Stufe im Sport erleben können?
Meine Erfolgskurve zeigt seit längerem jedes Jahr aufwärts. Auch in diesem Jahr fühle ich mich wieder auf einer etwas höheren Leistungsstufe, selbst wenn bisher oft etwas dazwischengekommen ist. Ich sehe noch immer viel Potenzial und auch viel Leidenschaft bei mir und habe nicht im Geringsten das Gefühl, als hätte ich nach Paris 2024 das Bedürfnis, zurückzutreten. Ich habe derzeit vor allem ein anderes Bedürfnis: Die Ernte aus dem jahrelangen grossen Aufwand einzufahren. Die Olympischen Spiele in zwei Jahren sind also mein nächstes ganz grosses Ziel, aber nicht mein Abschied.
Es gibt ja Berufsgruppen, die landläufig für Ihre Mentalität ab und an in Frage gestellt werden, z.B. Rechtsanwälte, Banker, Journalisten. Bei Sportlern wird das nicht gemacht. Bei denen ist es gut, wenn sie Egoisten sind; sie müssen egoistisch sein.
Dann hat man dann dieses Mindset: "Ich bin ein mühsamer Charakter, aber dass muss so sein, weil ich Spitzensportler bin."
Nein, das ist einfach eine verschobene Optik!