Das Schweizer Nationalteam hat den Cut überstanden: Es hat in seiner Gruppe ungeschlagen und ohne Gegentor gewonnen. Nun wartet am Samstag im Achtelfinal mit Spanien ein Gegner, der zu den Anwärtern auf den WM-Titel gehört.
Die 39-jährige Nora Häuptle verfolgt die Weltmeisterschaften intensiv. Die gebürtige Ostschweizerin, deren Lebensmittelpunkt seit vielen Jahren Bern ist, arbeitet aktuell als Nationaltrainerin von Ghana. Davor stand sie während mehrerer Jahre als Fussballexpertin beim SRF im Einsatz.
Mit welchen Gefühlen blicken Sie dem Samstag entgegen, wenn die Schweiz im WM-Achtelfinal auf Spanien trifft?
Nora Häuptle: Ich bin immer Fan, wenn eines unserer Schweizer Nationalteams antritt, egal ob im Fussball oder in einer anderen Sportart. Deshalb bin ich so gespannt und «gwunderig» darauf wie alle anderen auch, wenn es gegen eines der besten Frauen-Nationalteams der Welt geht.
Spanien kam gegen Japan beim 0:4 unter die Räder. Was macht das mit einem Team, das sich nicht gewohnt ist, so hoch zu verlieren?
Man muss wie so oft etwas genauer hinschauen. Spanien hatte zwei gute Gruppenspiele und im dritten ein wenig rotiert in der Aufstellung. Unter anderem spielte in der Innenverteidigung die Kapitänin nicht, auch zwei, drei andere wichtige Spielerinnen fehlten. Man merkte, dass die Qualität auf einigen Positionen etwas gefehlt hat. Andererseits dürften die Spanierinnen aus dieser Niederlage ihre Lehren ziehen. Es wird bestimmt eine Reaktion erfolgen.
Also sollte man diese Klatsche nicht überbewerten?
Genau, das würde ich nicht. Ich habe sogar das Gefühl, dass die Niederlage den Schweizerinnen eher entgegenkommt, weil sie nun mit Spanien auf einen Gegner treffen, der den Ball haben will. Es liegt dem Schweizer Spiel, wenn sie den Ballbesitz dem Gegner überlassen können. Und dann muss man auch einfach anerkennen, wie toll und effizient Japan seine Aufgabe gegen Spanien gelöst hat. Das war einfach gut gespielt.
Muss man Japan nach dieser abgeklärten Leistung nun zu den Favoritinnen zählen?
Ich verfolge den japanischen Fussball schon länger, spielte unter anderem letztes Jahr an der U20-WM mit Ghana gegen Japan, deshalb habe ich den Fussball dort ausführlich studiert. Der Verband hat ganze Arbeit geleistet. Japan gewann 2011 den WM-Titel, baute in den Folgejahren ab und der Verband ging daraufhin sehr systematisch ans Werk, um an die Spitze zurückzukehren. Das machen in dieser Konsequenz nicht viele Nationen.
Was zeichnet sie denn aus?
Die Japanerinnen haben immer zwei Systeme parat und sie haben unglaubliche technische Qualitäten. Sie machen es nicht mit Physis, sind weder besonders gross noch robust, dafür enorm agil und explosiv. Die Umschaltmomente gegen Spanien spielten sie sehr präzise aus und sie trafen die richtigen Entscheide. So braucht es gar nicht unbedingt die Power, die andere Teams haben. Vielleicht kann man aus Schweizer Sicht froh sein, dass man im Achtelfinal nicht gegen Japan spielt, sondern gegen Spanien.
Kann die Schweiz sich von Japan etwas abschauen? «Den Ballbesitz dem Gegner überlassen» klingt nach Aussenseiterfussball: Hinten dicht machen und vorne hoffen, dass es gelingt, Konter ebenso sauber zu fahren.
Ich glaube schon, dass Spanien meist den Ball haben wird und die Schweizerinnen eher über Umschaltmomente kommen können. Defensiv war die Nati bislang solid, im Ballbesitz tat sie sich etwas schwer. Aber wenn es diese Angriffe gibt, dann muss man sie auch entsprechend ausspielen. Und Spanien ist ja auch im Gegenpressing stark, wenn es den Ball verloren hat. Es wird daher ein Schlüssel sein, nach Balleroberungen schnell diesem Druck zu entkommen und sich nicht gleich wieder ins Gegenpressing verwickeln zu lassen.
Die Vorrunde der WM ist bald abgeschlossen. Welche Teams haben Sie auf dem Zettel für den Titel? Sind es noch die gleichen wie vor dem Turnier?
Das ist die Gretchenfrage. Es sind wohl immer noch die üblichen Verdächtigen. Ich denke, das wirkliche Niveau wird sich erst in den K.o.-Spielen herauskristallisieren. Ich sehe die Tendenz, dass alles ein wenig zusammengerückt ist.
Wie beurteilen Sie das bisher Gezeigte an dieser WM? Welche Entwicklungen haben Sie ausgemacht?
Das Luftspiel wird auch bei den Frauen immer relevanter. Als Antwort auf Fragen wie: Wie knacke ich einen gut organisierten, tief stehenden Gegner? Es gibt mehr Kopfbälle, Lobs und ähnliche Elemente. Spanien beispielsweise hat sich extrem weiterentwickelt: Lange passte es unendlich hin und her, ohne wirklich gefährlich vors Tor zu kommen. An dieser WM operieren die Spanierinnen viel häufiger mit Flanken aus dem Halbfeld oder mit Chip-Bällen.
Eine andere Tendenz ist bei der Physis auszumachen. Afrikanische, süd- oder mittelamerikanische Teams haben teilweise aufgeholt, weil sie mit diesen Attributen auftrumpfen können; aber auch weil sie besser organisiert sind. Es gibt Spielerinnen, die sich in 10-Meter-Sprints im Herren-Bereich bewegen.
Diese verbesserte Physis ist wohl mit ein Grund dafür, dass sich auch das Spiel als solches verändert hat.
Das ist so. Diese Entwicklung äussert sich auch darin, dass viel mehr Teams ein hohes und intensives Pressing betreiben. Sie können die dazu notwendige Laufleistung über 90 Minuten aufrecht halten. Und was ich ebenfalls spannend finde, ist, dass sich der Frauenfussball taktisch während langer Zeit etwa vier Jahre hinter dem Herrenbereich bewegte. Als der FC Barcelona mit seiner Ballbesitz-Dominanz auftrat, kam das bei den Barça-Frauen erst später. Nun dauert es weniger lang, dass Taktiken aus dem Männer- in den Frauenfussball übertragen werden. Und es werden mehr Eigenheiten von Frauen beachtet als früher.
Tendenziell gab es an dieser WM weniger Goalie-Flops. Ist das einfach nur Zufall oder gibt es dafür Gründe?
In meinen Augen gab es schon noch den einen oder anderen Bock an diesem Turnier. Man hat in den letzten Jahren erkannt, dass mehr in diese Position investiert werden muss. Es werden nur schon grössere Torhüterinnen gescoutet als früher und sie werden auch besser ausgebildet.
Wie geschieht das?
Häufig werden Frauen wie Männer trainiert. Aber wenn du auf der Goalieposition kleiner bist, verändert sich das Winkelspiel, das Stellungsspiel, Standards werden vielleicht anders verteidigt. Das sind Aspekte, die mehr und mehr beachtet werden. Eine Frau kann auch keinen 70-Meter-Abschlag machen wie ein Mann, das hat alles Auswirkungen aufs Spiel. Da wurde man reflektierter und sieht Lösungsansätze. Aber in der Umsetzung sind schon noch nicht alle Nationen gleich weit.
Sie sind aktuell Nationaltrainerin von Ghana und haben Ihre ersten fünf Spiele alle gewonnen. Was steht im Fokus? Die Qualifikation für Olympia 2024 in Paris?
Aus sportlicher Sicht bestimmt, ja. Die erste Runde haben wir überstanden, im Herbst geht es im Europacup-System mit Hin- und Rückspielen weiter. Dazu wollen wir uns für den Afrika-Cup, den WAFCON, qualifizieren. Wir haben viele Spiele vor uns und in jedem geht es um etwas, das «fägt».
Wie anders ist die Arbeit in Afrika gegenüber jener in Mitteleuropa?
Klar kann man nicht alles vergleichen. Es geht darum, zu priorisieren. Es gibt jene Bereiche, die du beeinflussen kannst, und du musst lernen, das, was rundherum passiert und ausserhalb deiner Macht steht, zuzulassen. Ich sehe vor allem das grosse Potenzial. Das Talent ist vorhanden, Ghana hat über 70 Spielerinnen, die im Ausland spielen. Es ist ein grosser Aufwand, sie zu scouten, wir sind immer noch dran. Aber es gibt viele spannende, junge Spielerinnen. Für mich liegt der Reiz darin, es zu schaffen, dass sie ihr Potenzial ausschöpfen können.
In der Schweiz ist der Stellenwert des Frauenfussballs nicht wahnsinnig hoch. Wie sieht das in Ghana aus?
Grundsätzlich ist es eine sehr fussballaffine Nation. Die «Black Queens» waren sogar noch vor den Herren erfolgreich, sie hatten eine goldene Generation, die 1999, 2003 und 2007 an der WM war. Danach verschlief man es etwas, am Ball zu bleiben. Das erkannte man, es wird nun investiert und man ist bestrebt, zu diesen glorreichen Zeiten zurückzukehren. Die Frauen haben einen grossen Kredit, es kommen stets einige tausend Zuschauer zu den Spielen. Man muss sich die Aufmerksamkeit aber auch erspielen. Jetzt läuft es gut und nun sind 30–40 Journalisten an unseren Pressekonferenzen, vor dem ersten Spiel waren es noch fünf.
Was hat Sie überhaupt nach Ghana gebracht? War auch eine Portion Abenteuerlust dabei?
Absolut, man bewegt sich wirklich sehr bewusst ausserhalb der eigenen Komfortzone, wenn man sich dazu entschliesst. Ich habe diesen Schritt gesucht, wollte ihn einmal machen. Das ist das Schöne an dieser Reise durch die Fussballwelt, sei es als Spielerin oder jetzt als Trainerin, dass man sich mit solchen Herausforderungen selber entwickeln kann. Es geht nicht in jedem Schritt um schneller, höher, weiter.
Ich spüre: Ihnen geht es nicht ausschliesslich um den sportlichen Aspekt. Stimmt dieser Eindruck?
Ja. Ich lerne sehr viel von der ghanaischen Kultur, und in einem teils chaotischen System in der Balance zu bleiben. Ich könnte jetzt schon ein Buch mit unglaublichen Geschichten, die ich hier erlebt habe, schreiben. Immer souverän das ganze Projekt zu leiten, ist ein grosser «Lehrblätz» für mich. Ich bin hier nicht nur Trainerin, sondern auch eine Art Managerin und das macht mir unglaublich viel Spass. Es kommt auch viel Energie zurück, viel Herzlichkeit. Klar müssen die Resultate stimmen, das ist im Fussball überall der Fall, aber ich habe schöne Begegnungen und berührende Momente, die mir etwas zurückgeben.
Wie oft sind Sie in Ghana?
Ich habe eine Wohnung in der Hauptstadt Accra. Rund um die Nationalmannschafts-Termine besuche ich viele Partien der heimischen Liga, ich war auch schon im Norden dieses grossen Landes, wo jede Region ihre kulturellen Eigenheiten hat. Mir ist es sehr wichtig, präsent und nahbar zu sein, und das Gespür dafür zu bekommen, was ich in Ghana machen muss, um etwas zu bewegen. Daneben bin ich viel in Europa unterwegs, um Nationalspielerinnen zu beobachten und zu treffen. Dazwischen bin ich bei meiner Familie in der Schweiz. Es ist ein intensives Leben, aber sehr spannend.
Sie trainierten zuvor schon in der Bundesliga. Haben Sie für Ihre Karriere ein Ziel?
Ich bin jemand, der versucht, stark im Hier und Jetzt zu sein. Das ist auch etwas, was man in Afrika lernt. Natürlich habe ich eine gewisse Planung, aber für mich ist es stets wichtig, als Mensch zu wachsen. Der Fussball ist für mich eine Lebensreise, die ich nicht abbrechen will. Das eine führt zum nächsten und man spürt, was einem guttut. Klar habe ich eine Vision – oder eine Utopie? Ich habe so viele tolle Menschen kennengelernt im Geschäft und fände es wunderbar, wenn man von Grund auf einen Klub gründen und alles so aufbauen könnte, wie man das für richtig hält, mit dem Knowhow all dieser Leute. Das wäre mal etwas! Ob das realistisch ist oder nicht, steht in den Sternen.