Sie sind als Spieler und Trainer den weiten Weg aus der B-WM bis in den WM-Final gegangen. Was sind die Faktoren, die diese Entwicklung möglich gemacht haben?
Patrick Fischer: Dank einer Kombination aus verschiedenen Faktoren hat sich das Schweizer Eishockey deutlich weiterentwickelt. Die Infrastruktur hat sich verbessert, die Trainerarbeit von guten ausländischen und nationalen Trainern war wichtig und unsere Spieler konnten vor allem früher von sehr guten ausländischen Spieler profitieren. Auch die finanziellen Mittel haben zur Entwicklung beigetragen.
Welche Rolle spielt das Geld?
Die meisten Spieler der Generation vor meiner Zeit in den 1980er und frühen 1990er Jahren waren noch weitgehend Amateure mit den Gewohnheiten des Amateur-Hockeys. Unter Geo Mantegazza begann in Lugano der Professionalismus, ich gehörte zur ersten Spielergeneration, die vom Eishockey leben konnte. Unter Ralph Krueger machten wir ab 1998 einen weiteren Schritt: Er lebte Professionalität vor und forderte sie auch ein. Zunächst konnten wir international defensiv gut mithalten und haben damit die Basis geschaffen, um unsere offensive Qualität Schritt für Schritt weiterzuentwickeln. Dann brachte eine neue Spielergeneration mit Nino Niederreiter und Roman Josi mit der WM-Silbermedaille von 2013 den Durchbruch. Von da an sind Schweizer Spieler genauer beobachtet worden und wir hatten ein besseres Standing.
Sie waren damals als Assistent von Nationaltrainer Sean Simpson bereits dabei. Was ermöglichte diesen Exploit?
Das können wir uns auch heute noch nicht im Detail erklären, wie wir das gemacht haben. In diesen zwei Wochen damals in Stockholm hat sich etwas in unserem Hockey verändert. Mit viel Glück gewannen wir das Auftaktspiel gegen Schweden und gleich die zweite Partie mit Dusel nach Penaltys gegen die Kanadier. Von da an gingen wir mit neuer Selbstsicherheit und Entschlossenheit in die Spiele, besiegten im Viertelfinal die Tschechen und im Halbfinal die Amerikaner. In diesen zwei Wochen haben wir den Glauben an unsere Fähigkeiten gefunden und dieses Selbstvertrauen haben wir in den letzten Jahren kultiviert.
Also ist diese Entwicklung vor allem eine Frage des Selbstvertrauens?
Das ist so. Jeder weiss inzwischen, wir sind nicht mehr Aussenseiter und müssen uns vor keinem Gegner verstecken. Die Entwicklung unseres Eishockeys auf allen Ebenen, von der Infrastruktur über die Klubs und die Liga bis zur Förderung des Frauenhockeys ist enorm und darauf dürfen wir stolz sein.
Dann ist die WM 2013 so etwas wie der «Urknall», der diese Entwicklung ausgelöst und uns in die Weltspitze gebracht hat?
Da haben wir erlebt, was möglich sein kann, wenn wir an uns glauben und wie entscheidend der Teamspirit ist. Wir mussten damals im Vorfeld einige harte Entscheidungen treffen. Ivo Rüthemann flog zuletzt noch aus dem WM-Team und wir nahmen dafür mit Julian Walker einen kräftigeren Spieler mit, weil wir noch nicht genug Talent hatten. Wir wussten, dass wir Feuer ins Team bringen mussten, um eine Chance zu haben. Masseur Karl Müller war mit seinen Ideen für die mentale Vorbereitung ein wahrer Meister seines Fachs. Im Ritterraum des Schlosses Rapperswil nutzten wir in passender Umgebung die historische Atmosphäre, um unseren Kampfgeist zu stärken und uns bewusst zu machen, dass wir als Nachfolger der kämpferischen Schweizer Eidgenossen keinen Grund haben, uns zu verstecken. Dann haben wir gemeinsam die Nationalhymne gesungen.
Alle haben die Hymne gesungen?
Ja, wir haben während der WM in Stockholm in der Kabine nach jedem Match gemeinsam die Hymne gesungen. Es hat am Schluss ganz gut getönt. Und Sie waren ja auch im Flug nach dem Turnier heim nach Zürich dabei: Beim Landeanflug ist Mathias Seger aufgestanden und hat die Hymne angestimmt und die Besatzung konnte nicht verhindern, dass alle aufstanden und gesungen haben. 2013 haben wir zum ersten Mal erlebt, wie viel Kraft dieser Nationalstolz geben kann.
Aber der Weg von 2013 bis zum nächsten WM-Final von 2018 war noch ein weiter und es gab viele Irrungen und Wirrungen. Haben Sie nach Ihrer Amtsübernahme im Herbst 2015 nie gezweifelt?
Nein. Ich war in Lugano im Oktober 2015 entlassen worden und dann rief mich Raffa (der damalige Verbands-Sportdirektor Raeto Raffainer – die Red.) an. Ich fragte ihn, warum er mich für das Amt des Nationaltrainers wolle. Er sagte, er wolle etwas verändern und ich sei ein Typ ohne Angst vor Veränderungen …
… wie kam er darauf?
Lugano war mein erster Trainerjob. Meine Vision war es, Lugano wieder «grande» zu machen. Zu dem Lugano, das ich noch als Spieler erlebt hatte. Meine Vision war es, den Erfolg nicht zu kaufen, sondern dieses Ziel mit eigenen Spielern zu erreichen. Wir veränderten viel, fuhren eine harte Linie, beispielsweise musste Hnat Domenichelli gehen. Wir scheiterten zweimal im Viertelfinal und ich musste im Oktober 2015 gehen, aber noch in der gleichen Saison kam Lugano mit 12 Spielern aus der eigenen Nachwuchsorganisation bis in den Final. Darauf bin ich heute noch stolz. Offensichtlich hatte Raffa gesehen, dass ich etwas verändern kann. Zusammen mit Michael Rindlisbacher (damals als Verbandsverwaltungsrat für den Sport zuständig – die Red.) haben wir eine Vision erarbeitet, wie wir unter die Top 6 der Welt kommen können und waren uns einig, dass wir jedes Jahr die Viertelfinals und alle drei Jahre die Halbfinals erreichen müssen. Seit 2018 sind wir auf Kurs und wir sind aktuell, Russland ausgeschlossen, die Nummer 2 der Weltrangliste.
Aber Sie hatten zu Beginn Ihrer Amtszeit viel Gegenwind.
Wir mussten die Balance finden. Bei meiner ersten WM 2016 führten Felix Hollenstein, Reto von Arx und ich das Team und wir dachten alle offensiv. Dann kam Tommy Albelin als Assistent und hat uns geholfen, eine bessere Balance zu finden.
War zwischen 2013 und 2016 der Teamspirit etwas verloren gegangen?
Ja, wir mussten diesen Bereich wieder forcieren. Dazu gehört, dass wir bei einem Aufgebot für die Nationalmannschaft keine Absagen mehr akzeptieren. Im Sinne von: «Hey Jungs, dank unserem Eishockey seid ihr geworden, was ihr heute seid und es ist Zeit, etwas zurückzugeben». Nicht nur die Kanadier haben mich inzwischen gefragt, wie wir das zustande bringen, dass wir keine Absagen für eine WM haben.
Warum gibt es keine Absagen mehr?
Es hat etwas mit Regeln zu tun.
Regeln?
Ja, Regeln, die dazu führen, dass einer nicht mehr einfach absagen kann.
Ist es denn nicht eine Ehre für einen Spieler, die Schweiz vertreten zu dürfen?
Das reicht nicht. Wir haben in den letzten Jahren Denis Malgin, Dean Kukan, Simon Bodenmann, Fabrice Herzog und Dominik Schlumpf nach Absagen vorübergehend ausgeschlossen. Die Regeln sind ganz einfach: Wer einem Aufgebot ohne Grund nicht Folge leistet, wird für eine bestimmte Zeit ausgeschlossen. Wenn ein Spieler jedem Aufgebot Folge leistet, dann lassen wir ihn nicht für eine Heim-WM oder ein Olympisches Turnier für einen Spieler zu Hause, der erst im Hinblick auf die Olympische Spiele oder eine WM im eigenen Land wieder Lust auf die Nationalmannschaft hat. Wir wollen keine «Cherry picking»-Mentalität.
Die Spieler akzeptieren diese Regeln?
Wir haben diese Regeln gemeinsam mit den Spielern erarbeitet.
Gibt es eine Begnadigung für Lian Bichsel?
Nein und es ist nicht mein alleiniger Entscheid. Wir haben das in der sportlichen Führung entschieden und auch das Captain-Team miteinbezogen.
Aber bei ihm ging es ja nur um Absagen für die U 20-Nationalmannschaft und inzwischen ist er ein NHL-Profi geworden.
Auch für die Junioren-Nationalmannschaften gelten diese Regeln. Wenn die Nationalmannschaft ruft, dann folgt man diesem Aufgebot. Es ist ein wichtiges Zeichen für die nächste Spielergeneration. Ohne die Nationalmannschaft wären viele Spieler nicht dort, wo sie heute stehen. Wir dulden keine Rosinenpicker, die einem Aufgebot nur dann Folge leisten, wenn es ihnen passt und ein besonderes Ereignis wie die Olympischen Spiele oder eine Heim-WM bevorsteht.
Lian Bichsel wird also weder beim olympischen Turnier noch bei der Heim-WM dabei sein.
So ist es.
Sie sind nun zehn Jahre Nationaltrainer. Hatten Sie nie Zweifel?
Ich hinterfrage immer wieder meine Arbeit, aber ich hatte noch nie Zweifel an meiner Vision, aus unserer vielleicht ein wenig verknorzten, ängstlichen Schweizer Mentalität herauszukommen und den Mut zu haben, etwas zu wagen, und auch mal Fehler zu machen. Die WM 2018 war so etwas wie ein Befreiungsschlag und gab uns etwas Luft. 2019 fehlten uns gegen die Kanadier 0,03 Sekunden für den Einzug in den Halbfinal. Dann folgte eine harte Lektion mit den zwei Viertelfinal-Niederlagen gegen Deutschland.
Nach der zweiten Viertelfinal-Niederlage gegen die Deutschen bei der WM 2023 wurde die Luft für Sie dünn.
Am Tag nach dem Ausscheiden im Viertelfinal gegen die Deutschen bei der WM in Riga habe ich das Gespräch über das weitere Vertrauen im Team gesucht.
Sie sind hingestanden und haben ihren Job zur Verfügung gestellt?
Ja. Die Spieler haben gesagt: Nein, wir gehen weiter, wir haben versagt, es lag an uns, nicht an den Coaches.
Sie hätten im Falle eines Falles ihr Amt niedergelegt?
Ja.
Haben Sie eine Erklärung für diese zwei Viertelfinal-Niederlagen 2021 und 2023 gegen die Deutschen?
Wir sind auch 2023 mit der Favoritenrolle nicht zurechtgekommen und waren in entscheidenden Momenten blockiert. Wir haben deshalb bewusst während der darauffolgenden Saison Druck aufgesetzt, um zu lernen, mit dieser Rolle umzugehen. Das führte zwar zu einigen Niederlagen in Länderspielen, war aber notwendig, um zu lernen, in entscheidenden Situationen zu liefern. Wir hatten auch 2022 alle Gruppenspiele gewonnen und schieden im Viertelfinal gegen die USA aus. Allen war klar: Wir dürfen die WM 2024 nicht verhauen. Sonst wäre ich wahrscheinlich weg gewesen.
Bei der WM in Prag war von dieser Blockade nichts mehr zu spüren.
Trotz der kritischen Situation blieben wir entspannt und die Stimmung im Team war sehr gut. Wir hatten gezielt darauf hingearbeitet, Ruhe zu bewahren und eine Blockade wie 2023 zu vermeiden: Entschleunigen, demütig sein und auf den Moment konzentrieren.
Also das «Viertelfinal-Trauma» überwinden.
Genau das haben wir getan. Besonders im mentalen Bereich haben wir intensiv gearbeitet. Unser Performance Coach Stefan Schwitter hat zusammen mit Hypnosecoach Adrian Brüngger, den wir für dieses Turnier phasenweise hinzugezogen haben, wichtige Inputs gebracht.
Echt jetzt? Hypnose?
Ja. In verschiedenen Gruppen- und Einzel-Sitzungen.
Nun sind Sie einen Schritt weiter: Nun geht es darum, ein Final-Trauma zu löschen. Zweimal hintereinander im Final, zweimal kein Tor erzielt.
Wir müssen unsere Lehren aus diesen zwei Niederlagen ziehen. Unser System ist auf Angriff aufgebaut. Wir wollen aktiv sein, Tore erzielen. Aber wir waren in Stockholm gegen die Amerikaner eine Spur zu passiv, irgendwie abwartend und etwas gehemmt.
Also doch noch eine Restmenge des Schweizer Aussenseiter-Komplexes?
Obwohl die Amerikaner viele NHL-Spieler im Kader hatten, waren wir definitiv keine Aussenseiter. Dennoch ist diese Überzeugung noch nicht zu hundert Prozent verinnerlicht und wir müssen stets auf hohem Niveau fokussiert bleiben. Wir suchten das Risiko zu wenig. Eine 1:5-Niederlage wäre mir lieber als ein 0:1. Natürlich fehlte uns Nico Hischier (er hatte sich im Laufe des Turniers verletzt – die Red.) Seine individuelle Klasse ist kaum zu ersetzen. Aber wir hätten auch ohne ihn diesen Final gewinnen können.
War rückblickend die «Autobahn» in den Final mit einem 6:0 gegen Österreich im Viertelfinal und einem 7:0 gegen Dänemark im Halbfinal ein Problem? War es zu leicht, in den Final zu kommen?
Das ist hypothetisch. Wir hatten zwei Spiele fast nach Belieben dominiert und als es im Final nicht mehr wie gewünscht funktionierte, kam etwas Frustration auf. Der Final war alles in allem okay und ich bin immer noch stolz darauf, wie wir zusammengehalten und uns gegenseitig unterstützt haben. Aber es wäre mehr möglich gewesen.
Sind Sie auch ein wenig das Opfer der Romantik geworden? Sie haben Andres Ambühl im Final zum Abschluss einer grandiosen Karriere eine gute Viertelstunde Eiszeit gegeben. Es ist eine gewisse Ironie, dass ausgerechnet Sie mit Ihrer mutigen Vision im Final nicht mit einer mutigen Konzentration der besten Kräfte alles auf eine Karte gesetzt haben.
Das kann man so sehen. Wie ich schon sagte: Es wäre mehr möglich gewesen.
Nun kommt eine Saison mit dem olympischen Turnier und der Heim-WM in Zürich und Fribourg.
Wir freuen uns einfach unglaublich auf diese WM mit unserem Publikum im Rücken. Je mehr Energie, Leidenschaft und Freude wir vermitteln, desto mehr werden wir zurückbekommen.
Ist es ein Vorteil oder ein Nachteil, dass Sie bei Olympia und bei der WM – anders als die anderen grossen Nationen – zweimal mindestens zur Hälfte auf die gleichen Spieler setzen müssen?
Eher ein Vorteil. Die anderen haben im Direktvergleich alles in allem die talentierteren Einzelspieler. Aber Eishockey ist ein Teamsport. Mehr als die Hälfte unserer Spieler werden das olympische Turnier und die WM bestreiten und wir werden drei Monate nach den Olympischen Spielen eine ähnliche Mannschaft und damit eine gute Basis haben.
Haben Sie die Spieler für diese internationale Doppelbelastung?
Ja, die Spieler sind sich diese Belastung gewohnt und wir berücksichtigen die Doppelbelastung bei unserer Planung. Einige Spieler aus der Liga, die für das olympische Turnier in Frage kommen, werden wir nicht für die Länderspiele im November und Dezember aufbieten.
Sie könnten sich viele Fragen und einige Unruhe ersparen, wenn Sie Ihren nach der WM auslaufenden Vertrag noch vor Weihnachten vorzeitig verlängern würden.
Daran habe ich überhaupt noch nie gedacht und meine Vertrags-Situation interessiert mich nicht. Es geht jetzt um die Olympischen Spiele und die WM im eigenen Land. Zum ersten Mal werde ich beim olympischen Turnier eine Mannschaft mit allen NHL-Profis zur Verfügung haben, 2018 und 2022 waren die Spieler aus der NHL nicht dabei. Ich bin in diese Saison eingetaucht, ich geniesse jeden Moment, meine Freude ist riesig.
Und wenn ein Angebot von einem Klub kommt? Vielleicht gar ein Assistenten-Job in der NHL?
Das interessiert mich einfach nicht. Ich habe weder Zeit noch Lust, um an das zu denken, was nach dieser Saison kommt.
Es ist auch ein Stück Hockey-Romantik, dass Sie nun Marcel Jenni als Assistenten haben. Sie haben bei der Heim-WM 1998 beide im Nationalteam gespielt und in den wilden 1990er Jahren auch mal neben dem Eis gerockt.
Marcel und ich ergänzten uns schon als Spieler und erst recht jetzt bei unserer Arbeit mit dem Nationalteam. Er ist ein Workaholic, der sich in die Materie verbeissen kann und er schaut auf jedes Detail. Dazu kommt seine Loyalität.
Aber die Nummer 1 in der Hierarchie ist Patrick Fischer, dann erst kommt Marcel Jenni.
Dieses Bild einer Hierarchie passt nicht ganz. Ich bin eher wie ein Manager und versuche jeden in unserem Coaching-Team in seinem spezialisierten Bereich arbeiten zu lassen.
Die Nationalmannschaft hat von Spielern die den Sprung in die NHL gewagt und alles auf diese Karte gesetzt haben mindestens so viel profitiert wie umgekehrt.
Haha ohne Grund... Ihm hat der Entscheid NHL -Karriere > Nati nicht gefallen...