Bevor wir die erste Frage zur Nachwuchsproblematik stellen, schickt Peter Knäbel (57) mit Vehemenz voraus: «Egal, aus welcher Perspektive wir den Fussball nun beleuchten: Am Ende ist es immer ein Ringen um Spielzeit. Immer. Sie ist das wertvollste Gut.»
Herr Knäbel, junge Schweizer erhalten in der Super League immer weniger Spielzeit. Müssen wir uns Sorgen um die Zukunft der Nationalmannschaft machen?
Peter Knäbel: Die Voraussetzungen der Nachwuchsabteilungen in den Klubs sind grundsätzlich gut: finanzielle Mittel, Strukturen und inzwischen auch die notwendige Anerkennung. Das war in den letzten 30 Jahren ein steiniger Weg. Es brauchte Visionäre wie Hansruedi Hasler, Erich Vogel oder Edmond Isoz, die den Weg der Professionalisierung gestaltet haben. Heute gibt es im Verband und bei den Profiklubs mehrere vollamtliche Nachwuchstrainer. So gesehen steht die Nachwuchsförderung auf gesunden Beinen.
Aber?
Schauen wir bei drei Phasen genauer hin: Wie ist der Zulauf im Kinderfussball? Sehr erfreulich. Leider mit der Folge, dass es Vereine mit Wartelisten gibt und die Infrastruktur an Grenzen stösst. Generell machen unsere Vereine im Breitenfussball einen hervorragenden Job. Im Junioren-Leistungsfussball ist die Vertretung an U17-Endrunden ein Indikator, wie es um den Schweizer Spitzenfussball steht. Wir sind seit 2009 stabil geblieben, während andere Länder massiv aufgeholt und uns teilweise überholt haben. Die dritte, die wichtigste Messgrösse ist die Spielzeit der Jungen in den Profiligen: Es wurden verschiedene Hebel getätigt, zum Beispiel wurde die Super League vergrössert. Trotzdem sinkt die Spielzeit von jungen Schweizern. Das ist alarmierend.
Woran liegt das?
Ich mache sicher keine Ferndiagnosen. Ich kann aber abschätzen, was es braucht: in den Nachwuchsabteilungen angesehene und meinungsstarke Persönlichkeiten wie früher Urs Fischer, Ludovic Magnin beim FCZ oder Gerry Seoane in Luzern. Die heutige Transferstrategie der Klubs, mehrheitlich externe Spieler zu verpflichten, ist auf die Stärke der Scoutingabteilungen zurückzuführen. Im Gegenzug scheint der Einfluss der Nachwuchsabteilungen innerhalb der Vereine an Gewicht verloren zu haben.
Obwohl die Vereine Millionen in den Nachwuchs stecken, holen sie lieber Ausländer?
Jeder Verein will einen qualitativ hochwertigen Konkurrenzkampf zwischen Nachwuchs- und Scoutingabteilung. Deshalb muss der Nachwuchschef bei Sportchef und Trainer Lobbyarbeit betreiben, wenn er absolut davon überzeugt ist, dass einer seiner Spieler parat ist. Ein Beispiel: 2007 brauchte es auch beim FC Basel enorm viel Überzeugungsarbeit, dass die Ausleihe des grössten Torwarttalents Yann Sommer nach Vaduz der richtige Weg ist. Und es war genauso schwierig, die Verantwortlichen drei Jahre später zu überzeugen, anstelle von Publikumsliebling Franco Costanzo ebendiesen Yann Sommer zur neuen Nummer 1 zu machen. Auf diesem Niveau muss das schwierig sein, das sind keine einfachen Gespräche. Aber das Resultat ist bekannt. Auch ein Fabian Frei, heute Rekordspieler des FC Basel, hat den Umweg via St.Gallen gemacht.
Die U21-Nati misst sich in der EM-Qualifikation unter anderem mit Rumänien, Finnland und Albanien. Fragt man die Leute auf der Strasse, ist die Meinung klar: Gegen solche Gegner muss die Schweiz durchmarschieren. In der Realität ist es ein enges Rennen um den Gruppensieg. Ist das ein Vorbote dafür, was der A-Nationalmannschaft blüht? Oder ist das Selbstverständnis, dass die Schweiz an jede EM und WM fährt, verfehlt?
Bleibt die Spielzeit für junge Schweizer auf dem aktuell tiefen Niveau, wirkt sich das spätestens in fünf Jahren negativ auf die A-Nati aus. Gemessen an unserer Grösse performt die Schweiz überdurchschnittlich. Rumänien hat doppelt so viele Einwohner. Und auch dort gibt es Leute, die etwas von Fussball verstehen. Und es wäre töricht, nicht demütig zu sein – aber es wäre genauso töricht, sich dank des stabilen Fundaments, das wir uns in den letzten 30 Jahren erarbeitet haben, nicht mit den Grossen zu messen.
Die Schweiz steht für Stabilität, Reichtum, Bildung – ist das nicht auch ein Hindernis für ein Talent, alles dem Fussball unterzuordnen? Und dadurch für das Land viele Topspieler rauszubringen?
Das sind alles Errungenschaften, auf die wir stolz sein dürfen. Und sie verhindern keinesfalls, dem Sport alles unterzuordnen. Oder anders ausgedrückt: Uns geht es nicht zu gut, um im Fussball erfolgreich zu sein.
Einspruch: Frankreich hat genügend Topspieler für fünf Nationalteams – und viele von ihnen stammen aus Problemvierteln. Auch Kylian Mbappé ist in der Pariser Banlieue aufgewachsen.
Ja, aber diese Vergleiche bringen wenig. Jedes Land hat seine eigene Geschichte und Hintergründe und muss daraus das Maximum rausholen. Ein Ortskundiger hat mich einst durch die Pariser Quartiere geführt, eines ist mir geblieben: Wie wichtig dort die zentrale Lage von Sportanlagen in Ballungsgebieten ist. Gefühlt jedes Kind in diesen Quartieren spielt Fussball, weil die Plätze zwischen den Hochhäusern liegen. Es ist absolut nachvollziehbar, dass alle grösseren Klubs in Frankreich Scouts in Paris haben und sich diese Talente auf die Zentren im ganzen Land verteilen.
Zurück zum ursprünglichen Thema: Muss der Fussballverband eingreifen, um die Spielzeit von jungen Schweizern in der Super League wieder zu erhöhen?
Es gibt zwei Möglichkeiten: regulieren oder belohnen. Der Weg von Liga und Verband, finanzielle Anreize zu schaffen, gefällt mir. Regeln einführen ist nur dann nötig, wenn sonst keine Einsicht eintritt. Dafür ist es noch zu früh.
In der Challenge League winken bis zu 100'000 Franken Prämien für das Einsetzen von jungen Schweizern. Aber bringt es der A-Nati überhaupt etwas, wenn ein U21-Spieler in der Challenge League spielt – müsste der nicht längst in der Super League sein?
Völlig egal – Hauptsache, er spielt! Regelmässig! Probleme sehe ich bei der Akzeptanz auf der Spielerseite: Nicht wenige raten dem Talent, beim Klub mit dem grösseren Namen zu bleiben. So bleibt der Wert des Spielers höher, aber das ist zu kurz gedacht. Die Spieler müssen sich bewusst sein: Es führt nichts an Spielpraxis vorbei. Auf der Bank geht es keinen Schritt vorwärts. Yann Sommer, Fabian Frei, Gökhan Inler – alle haben erst einen Schritt zurück gemacht, ehe sie zu Legenden wurden.
Von 100 Junioren im gleichen Jahrgang: Wie viele schaffen es zum Profi?
Grundsätzlich ist jeder Jahrgang unterschiedlich. Die Erfahrung zeigt: Meist gibt es ein bis zwei Ausnahmetalente, zum Beispiel Rakitic, Sommer oder Shaqiri, Mehmedi, Xhaka und Rodriguez, um die schon im Alter von 16 Jahren internationale Klubs kämpfen. Diese Spieler, wenn wir sie behalten wollen, müssen früh debütieren und regelmässig in der Super League spielen. Dahinter muss es aber noch eine Gruppe von Spielern geben, die wie eine zweite Welle einen Profivertrag in der Super League erhalten, sich aber die Spielpraxis in der Challenge und Promotion League holen. Und nicht zu vergessen die Spätberufenen (Renato Steffen, Fabian Schär etc.), die ihren ganz eigenen Weg gehen und später dazustossen. Ungefähr 10 bis 15 Profispieler pro Jahrgang sollten dann am Ende rauskommen.
Gibt es eine Faustregel, wie viel Zeit ein Spieler nach dem Profidebüt braucht, um zu erkennen, ob er genügt?
Verletzungsfreiheit vorausgesetzt: Die Spielzeit sollte von Halbjahr zu Halbjahr steigen. Und spätestens in der dritten Saison sollte man Stammspieler sein. Sonst ist spätestens dann ein Schritt zurück ratsam. Und wenn es dort dann auch nicht klappt, muss man die beruflichen Alternativen prüfen. Und die sind zum Glück in unserem Land vielfältig und wertvoll.
Erst noch mit besseren Löhnen als beim ersten Profivertrag.
Ein wichtiger Punkt. Das Leben in der Schweiz ist teuer, die Schweizer Talente, die sich auf den Fussball konzentrieren wollen, müssen so entschädigt werden, dass sie das auch können. Alles andere ist ein fauler Kompromiss.
Ein Problem orten wir, dass die Schweizer Klubs zunehmend in internationale Klubnetzwerke verkauft werden. Und zum Rangierbahnhof von Talenten aus der ganzen Welt werden.
Die Super League muss junge Schweizer Spieler ausbilden und regelmässig einsetzen, das ist alternativlos. Wer sonst sollte ein Interesse haben, Schweizer Junioren auszubilden?
Der Trend geht aber in die falsche Richtung.
Schweizer Spielern in ihren Klubs eine Plattform zu bieten, muss auch im Interesse von ausländischen Investoren sein. Sonst vergeben sie gleich zwei Chancen. Eigengewächse schaffen Akzeptanz und Identifikation und machen nur schon wirtschaftlich Sinn – die in den Nachwuchs investierten Millionen sollen sich ja irgendwann auszahlen. Das Vorbild für alle auf höchstem Niveau ist Athletic Bilbao: Dort dürfen gemäss Statuten nur Basken spielen – trotzdem ist der Klub gerade Pokalsieger geworden, neben Real Madrid und Barcelona als Einziger noch nie abgestiegen und verdient viel Geld mit dem Verkauf seiner Eigengewächse. Die Art der Eigentümerschaft darf keinen Einfluss auf die Entwicklung von Schweizer Spielern haben. Ich sehe vielmehr noch eine andere Gefahr …
Ja?
Der internationale Transfermarkt mit seinen zwei Transferfenstern ist zur Ganzjahresveranstaltung geworden. Egal ob «Deadline Day», Transfer-Update und Kaderplanungsanalysen – der Markt produziert jeden Tag neue Informationen. Verglichen damit findet die Nachwuchsarbeit fast schon im Verborgenen satt. Dabei ist der Nachwuchs eine zeitlose Schönheit. Und die müssen wir pflegen.
Ist die Schweiz in der Nachwuchsarbeit genügsam geworden?
Nicht genügsam, aber wegen der Erfolge der A-Nationalmannschaft ist der Nachwuchs aus dem Fokus gerückt. Und weil in den letzten Jahren alles stabil war - regelmässige Endrundenteilnahmen und ausreichend Nachschub für die A-Nati waren normal. Aber jetzt liegt das Problem auf dem Tisch: Die Schweizer Talente spielen zu wenig. Der Fokus auf den Nachwuchs ist plötzlich wieder da. Und diesen Fokus brauchen wir, um die Zukunft positiv zu gestalten.
Einen wie Breel Embolo, dem man ab dem ersten Ballkontakt bei den Profis eine Weltkarriere zutraute, gab es seit zehn Jahren nicht mehr. Kann man Ausnahmetalente wie ihn, Granit Xhaka und Xherdan Shaqiri produzieren?
Nein. Das sind, wie der Begriff es schon sagt, Ausnahmen. Das schafft kein Verein und auch kein Verband der Welt. Dass ein Ausnahmetalent entdeckt wird, wird durch konsequente Nachwuchsförderung wahrscheinlicher. Und das ist auch notwendig, denn am Ende sind es auch die Ausnahmetalente, die regelmässige Turnierteilnahmen und Exploits wie einen EM-Viertelfinal erst möglich machen.
Was noch?
Die U21-Nationalmannschaft ist der wichtigste Zukunftsindikator. Die Spieler dort sollten Stammspieler in der Super League sein, zumindest nah dran. Beim Blick auf die spanische U21 fällt auf: Sie spielen alle regelmässig in der Primera Division. Auf etwas tieferem Niveau muss das auch unser Anspruch sein.
Zum Abschluss folgende These: Bleibt die Einsatzzeit von jungen Schweizern in der Super League auf dem aktuellen Niveau oder sinkt sie weiter, wird sich die A-Nationalmannschaft nicht mehr für jede EM und WM qualifizieren.
Das wäre eine logische Folge. Aber es geht um viel mehr: Wir dürfen unser Selbstverständnis und das Ansehen bei den Gegnern nicht aufs Spiel setzen. Unsere A-Nati, aber auch unsere Juniorenauswahlen gehen gegen Spanien, Deutschland oder Frankreich auf den Platz mit dem Anspruch zu gewinnen. Gleichzeitig wissen die Gegner: Die Schweiz zu schlagen, wird sehr schwierig. Das ist ein Resultat der Aufbauarbeit in den letzten 30 Jahren. Und die ist in Gefahr, wenn es so weitergeht.
Wohl bei keinem Schweizer Nati-Spieler lag Erwartung und Leistung so weit auseinander wie bei ihm.