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Martin Schmidt: «In der Bundesliga wartet niemand auf uns Schweizer»

Martin Schmidt im Interview
Martin Schmidt im Interview mit «CH Media».Bild: Annette Boutellier
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Martin Schmidt: «In der Bundesliga wartet niemand auf uns Schweizer»

Anfang Jahr hat Martin Schmidt nach mehr als 14 Jahren der Bundesliga den Rücken gekehrt und seinen Job bei Mainz 05 beendet. Der Oberwalliser hat einen wilden Ritt als Trainer und Sportdirektor hinter sich - und will im Sommer eine neue Herausforderung annehmen.
12.03.2025, 20:3512.03.2025, 20:35
François Schmid-Bechtel und Sebastian Wendel / ch media
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Martin Schmidt kommt direkt von der Belalp zum Interview. Früher brach er sich beim Skifahren mal zwei Halswirbel. Obwohl 57, ist er noch immer ein wilder Hund auf der Piste. Eine Firma würde ihm Rennlatten zur Verfügung stellen, erzählt er stolz. «Und heute hat mich eine Frau am Lift angeschnauzt, weil ich ohne Helm unterwegs bin.»

Mainz spielt ein Jahr nach dem Fast-Abstieg eine überragende Saison, schnuppert an der Champions League – und Sie gaben am 3. Februar ihr Mandat ab. Das verstehe, wer will!
Martin Schmidt: Der Zeitpunkt passt doch perfekt. Das Gros des Kaders habe noch ich mit Sport-Vorstand Christian Heidel zusammengestellt. Die Saison läuft sportlich ganz gut, meine Aufgabe in Mainz ist erfüllt.

Schon im letzten Sommer haben Sie einen Schritt zurückgemacht, gaben Ihr Amt als Sportdirektor auf und waren seither noch als Berater tätig. Warum eigentlich?
Der Grund war unter anderem mein Vater respektive sein Gesundheitszustand. Mitte Juni erlitt er einen Herzinfarkt. Ich war fast täglich im Wallis bei ihm im Spital. Bis Mitte Juli. Als ich wieder in Mainz war, sagte ich zu Heidel, wir müssen was ändern. Mein Vater ist 92. Ich weiss nicht, in welche Richtung es gehen wird und ich will noch möglichst eine gute Zeit mit ihm verbringen. Wenige Wochen später kam ich zum Schluss, dass ich einen Schritt zurückmachen will, vom Sportdirektor zum sportlichen Berater. Und nun, nach der Winter-Transferperiode, ist der Zeitpunkt gekommen, ganz Schluss zu machen in Mainz.

Wie geht es Ihrem Vater heute?
Gut. Er konnte im September wieder nach Hause. Das Herz ist intakt. Im Kopf ist er topfit. Einzig mit den Knien hat er ein bisschen Probleme. Aber er ist ja auch schon bald 93.

Martin Schmidt quitte son poste de directeur technique de Mayence ,masi va rester li
Martin Schmidt hat Mainz 05 verlassen.Bild: fxp-fr-sda-rtp

Fühlen Sie sich verpflichtet, etwas zurückgeben zu müssen?
Ich bin ein Familienmensch, habe sechs Geschwister und wir sind uns alle sehr nahe. Ausserdem fühle ich mich mit dem Wallis sehr verbunden. Auch als Bundesliga-Trainer fuhr ich bei jeder Gelegenheit ins Wallis, kaufte stets ein Saisonabo für die Belalp.

Und, haben Sie es rausgeholt?
Natürlich. 20- bis 25-mal pro Saison war ich immer Skifahren. Auch wenn ich nur einen freien Tag hatte und am Abend nach dem Vergnügen auf der Piste wieder zurück nach Mainz fahren musste.

Trotz Trainingslager, trotz allen Verpflichtungen?
Klar. Deshalb habe ich das Team auch mal mit ins Wallis genommen, so kamen nochmals drei Tage dazu.

Jetzt wissen wir, warum Sie nie Champions League gespielt haben. Das wäre für die Skitage drauf gegangen.
Ach was. Sogar während unserer Europa-League-Saison bin ich auf meine Skitage gekommen. Wenn ich am Sonntagmittag in Mainz abgehauen bin, am Dienstag das nächste Training anstand und ich dazwischen am Montag auf die Piste konnte, fühlte ich mich bei meiner Rückkehr derart erholt, als hätte ich fünf Tage in den Bergen verbracht. Im Winter im Mainz rief ich ständig die Webcam von den Walliser Bergen auf. Hätte ich die Winter ausschliesslich in Mainz verbracht, wäre ich kaputt gegangen.

Die Rückkehr als Therapie?
Ja, kann man fast so sehen. Hier holen dich die Menschen auf den Boden zurück, hier wirst du wieder geerdet. «Hey Martin, wieder verloren, was hast du nur gemacht?», kriegte ich nach Niederlagen zu hören. Es tat gut und war für mich mental wichtig, während der 14 Jahren Bundesliga immer wieder aus dieser Blase auszubrechen.

09.05.2021, Hessen, Frankfurt/M.: Fu�ball: Bundesliga, Eintracht Frankfurt - FSV Mainz 05, 32. Spieltag im Deutsche Bank Park. Der Mainzer Sportdirektor Martin Schmidt. Foto: Thomas Frey/dpa - WICHTIG ...
Schmidt verbrachte 14 Jahre in Deutschland.Bild: keystone

Mainz ist trotz allem nicht nur Wohlfühloase?
Es ist auch dort so etwas wie ein Überlebenskampf. Vor einem Jahr standen wir an Weihnachten als Absteiger quasi fest. Uns blieb noch eine Patrone übrig. Wir holten im Februar Bo Henriksen als Trainer. Ich hielt lange an meinem Freund Bo Svensson fest, was mir zunächst angelastet wurde. Als ich Assistent von Thomas Tuchel war, spielte Svensson in Mainz. Später war Svensson mein Co-Trainer. Danach habe ich ihn als Profi-Trainer installiert.

Wenn Ihnen das Wallis so viel bedeutet, warum sind Sie überhaupt weg?
Ich wollte Europa entdecken. Ich bin nicht nur Walliser oder Natischer, sondern auch Europäer. Wir Walliser sind weltoffen. Es gab hier im Tal viele Einflüsse von aussen. Mal gehörten wir zu den Savoyern, mal zu den Habsburgern, mal wollten uns die Italiener, zu Zeiten Napoleons waren wir Französisch. Und dank dem Tourismus kommen wir schon im Kindesalter mit anderen Kulturen in Kontakt.

epa11788485 Mainz head coach Bo Henriksen looks on prior the German Bundesliga soccer match between Eintracht Frankfurt and 1.FSV Mainz 05, in Frankfurt Main, Germany, 21 December 2024. EPA/RONALD WIT ...
Bo Henriksen wechselte im letzten Jahr von Zürich nach Mainz.Bild: keystone

Ihre erste Station im Fussball führte Sie aber nur bis Thun.
Immerhin. Das hat mir den nächsten Schritt nach Mainz ermöglicht. Als die Anfrage kam, ob ich bei einem Bundesligisten als Nachwuchstrainer arbeiten will, musste ich nicht überlegen. Bundesliga, das ist für meine Generation im Wallis das Grösste, grösser als die Premier League.

«Deutsche Klubs lieben Schweizer Spieler, weil sie gut ausgebildet, charakterlich top und leicht zu integrieren sind.»

Aber keiner wartet in Deutschland auf einen Schweizer. Erst recht nicht auf einen, der es als Fussballer nicht höher als auf die höchste Amateurstufe gebracht hat.
Zwar ist das Standing des Schweizer Fussballs ein höheres als vor der Jahrtausendwende. Aber warten tun sie dort nicht auf uns Schweizer. Das habe ich erlebt mit den Transfers, die ich gemacht habe. Frei und Widmer zu Mainz, Steffen und Mehmedi zu Wolfsburg, Vargas und Lichtsteiner zu Augsburg. Auf diese Spieler hat keiner gewartet, weil sie allein in Deutschland ein riesiges Reservoir haben. Aber sobald die Spieler drin waren, gaben sie die Klubs fast nicht mehr her. Deutsche Klubs lieben Schweizer Spieler, weil sie gut ausgebildet, charakterlich top und leicht zu integrieren sind.

Aber nicht alle setzen sich durch.
Ich sage immer: So lange du dich als Schweizer Spieler nicht in der Nationalmannschaft festgespielt hast, wird es schwierig, dich bei einem ambitionierten Bundesligisten durchzusetzen. Das hat sich sehr oft bewahrheitet.

Sie sprechen Rieder, Amenda, Jaquez und Zesiger an?
Ich nenne keine Namen. Der Schritt ist gross, auch für Trainer.

Warum spielt Captain Silvan Widmer in Mainz kaum noch?
Widmer genoss unter Svensson sehr hohes Ansehen. Bei Henriksen indes weniger, da er etwas anders spielen lässt. Ausserdem kam Widmer nach der Operation am Fussgelenk im Mai 2023 lange nicht zurück. Und dann hat es sein Konkurrent Anthony Caci in der Zeit auch sehr gut gemacht. Viele junge Schweizer Fussballer haben ein anderes Problem.

1. FSV Mainz 05 - Borussia M�nchengladbach, 1. FBL Trainer Bo Henriksen 1.FSV Mainz 05 gibt seinem Kapit�n Silvan Widmer 1.FSV Mainz 05, 30 Anweisungen. Bundesligaspiel zwischen dem 1. FSV Mainz 05 un ...
Unter Bo Henriksen kommt Silvan Widmer nicht mehr oft zum Einsatz.Bild: www.imago-images.de

Welches?
Sie wechseln aus der Schweiz zu Klubs, die tendenziell eher der zweite Schritt wären. Für die meisten wären Vereine wie Mainz, Augsburg, Freiburg, Gladbach die ideale erste Adresse. Klubs, die wirtschaftlich gesehen zum unteren Mittelfeld zählen. Aber diese Klubs können die geforderte Ablösesumme für die besten Spieler der Super League halt meist nicht bezahlen.

Das ist nicht Ihr Ernst.
Doch. Das Interesse, Rieder, Amenda, Puertas und auch damals Akanji nach Mainz zu holen, war da. Aber was ist passiert? Als die erste Kontaktaufnahme folgte, lag ihr Marktwert vielleicht bei zwei, drei Millionen. Ein Jahr später waren sie unbezahlbar für uns.

«Herausragende Spieler in der Super League haben ein Preisschild, das Klubs, wo sie den nächsten Schritt machen könnten, finanziell überfordert»

Warum haben Sie einen dieser Spieler nicht gleich nach dem ersten Kontakt verpflichtet?
Weil die Klubs ihre Spieler nicht für diesen Preis abgeben wollten. Bei Vargas hatten wir Glück, weil er erst kurz vor dem Wechsel zu Augsburg beim FC Luzern durchgestartet ist. Ich warnte unseren Manager Stefan Reuter: Wenn wir ihn jetzt nicht verpflichten, kommt YB oder Basel. Wenn er mal bei einem dieser beiden Klubs unterschrieben hat, wird er zu teuer für uns.

Rieder ist nun eineinhalb Jahre weg bei YB und scheinbar keinen Schritt weiter.
Wir hatten Interesse, ihn im Winter von Stuttgart auszuleihen. Leider hat es nicht geklappt. Das Problem: Herausragende Spieler in der Super League haben ein Preisschild, das Klubs, wo sie den nächsten Schritt machen könnten, finanziell überfordert. Das ist schade. Denn so wechseln die Spieler zu Vereinen, wo sie oftmals eine Back-up-Rolle spielen. Doch zu wenig Einsatzzeit ist für die jungen Spieler Gift. Ein anderes Beispiel.

Fabian Rieder (VfB), former player of Young Boys, reacts in front of the Young Boys fans after the Uefa Champions League soccer match between Germany's VfB Stuttgart and Switzerland's BSC Yo ...
Fabian Rieder gelang der komplette Durchbruch bislang nicht.Bild: keystone

Bitte?
Es gibt da einen Spieler – ich nenne keinen Namen – den wir seit zwei Jahren intensivst beobachten. Für mich ist er zurzeit der beste Spieler in der Super League. Letzten Sommer war der Berater bei uns. Aber schon im Winter war klar, dass wir diesem Spieler nur hinterherwinken können, egal wie sehr wir uns strecken. Der Spieler ist jetzt schon bei 10 bis 12 Millionen. Und was wird passieren? Ein grosser Klub aus Frankreich oder Deutschland kann ihn sich leisten. Doch dieser Spieler wird nicht gleich spielen, weil er als Super-League-Spieler die Physis noch nicht hat und die Intensität fehlt, um sich in diesem Klub und in der Liga durchzusetzen. Jeder Schweizer Spieler, der nach Deutschland wechselt, braucht meist mindestens ein halbes Jahr, bis er die physischen Voraussetzungen in der Bundesliga erfüllt.

«Mein Job ist erledigt, jetzt kann ich etwas Neues starten.»

Wenn die Geschichte so weitergeht, werden die Preise für Schweizer Spieler sinken, weil Sie sich nicht auf Anhieb bei ihren ersten Klubs im Ausland durchsetzen.
Das glaube ich nicht. Die Schweizer Liga ist technisch, taktisch und spielerisch top. Ihre besten Spieler wecken die Fantasie der finanzstarken Klubs. Das wird so bleiben. High Potentials werden immer ihren Preis haben.

Erstaunlich ist: Obwohl Sie in Mainz aufgehört haben, sprechen Sie noch immer in der Wir-Form.
Echt? Fällt mir gar nicht auf. Ich war mit Unterbrüchen 15 Jahre dort. Das hat wohl Spuren hinterlassen. Auch, weil wir erfolgreiche Arbeit geleistet haben. Als Heidel und ich im Dezember 2020 nach einem Unterbruch wieder zurückgekehrt sind, lag Mainz am Tabellenende. Wir fanden ein Team mit wenig Identifikation vor. Wir hatten das Stadion kaum ausgelastet, zirka 11'000 Mitglieder. Und jetzt? Das Stadion ist immer ausverkauft, die Mitgliederzahl auf 25'000 gestiegen und das Team spielt um die Europacupplätze. Mein Job ist erledigt, jetzt kann ich etwas Neues starten.

epa11788646 Paul Nebel of Mainz (C) celebrates with teammates after scoring the 0-3 goal during the German Bundesliga soccer match between Eintracht Frankfurt and 1.FSV Mainz 05, in Frankfurt Main, Ge ...
Mainz 05 hat momentan viel Grund zum Jubeln in der Bundesliga.Bild: keystone

Wollen Sie nochmals als Sportdirektor arbeiten?
Trainer oder Sportdirektor? Diese Frage stelle ich mir auch. Aber ich will sie offenlassen, mich nicht eingrenzen. Aber klar ist: An der Linie schlägt mein Herz am höchsten. Mein Sportdirektor-Job ging allmählich auch etwas weg vom Sport. Wir planen für etwa 43 Millionen eine neue Geschäftsstelle, das Trainingsgelände wird erweitert, damit musste ich mich auch beschäftigen. Mehr Spass bereitete mir die Integration der Fussball-Frauen zu Mainz 05, auch wenn am Anfang die Zustimmung nicht von allen da war.

Das war 2020, nicht 1960.
Ja. Mainz und Hertha Berlin waren damals die einzigen Bundesligisten, die keine Frauenabteilung hatten.

Wie konnten Sie sich in der Frauenfrage durchsetzen?
Wir nahmen Schritt für Schritt. Erst eine Kooperation mit Schott Mainz, darauf folgte die Integration und nun spielen wir um den Aufstieg in die 2. Bundesliga. Aber irgendwann übernahmen die vielen strategischen Themen überhand, mir ging es zu weit weg vom Rasen, konnte nicht mehr jedes Training schauen, spürte dadurch die Spieler weniger, konnte nicht mehr an allen Teamsitzungen dabei sein – mir war es zu weit weg vom Fussball. Es erinnerte mich an früher.

Als Sie noch Autos tunten?
Ja. Ich habe vier Jahre als Rennsport-Mechaniker gearbeitet. Danach gründete ich im Wallis meine eigene Tuning-Firma Autosprint. Je länger, desto mehr war ich nur noch im Büro und Verkauf, statt das zu tun, was mir wirklich Spass gemacht hat.

An den Autos rumschrauben?
Genau. Stattdessen habe ich den ganzen Tag mit Kunden verhandelt, Felgen, Fahrwerke und anderes verkauft. Ich konnte ja nicht einen Chef einstellen und selber wieder in die Werkstatt. (Lacht.) Also habe ich einen Schlussstrich gezogen und meine Autowerkstatt verpachtet.

Man spürt, es drängt Sie wieder auf den Platz.
Oder als Sportdirektor, der nahe am Team dran ist.

Wie häufig in den letzten 15 Jahren hatten Sie Angebote aus der Schweiz?
Darauf will ich nicht näher eingehen. Aber es gab schon einige gute Kontakte in die Super League.

Wollen Sie im Sommer wieder im Profifussball einsteigen?
Das wäre mein Plan.

28.01.2023, Rheinland-Pfalz, Mainz: Fu�ball: Bundesliga, FSV Mainz 05 - VfL Bochum, 18. Spieltag, Mewa Arena. Der Mainzer Sportdirektor Martin Schmidt. Foto: Torsten Silz/dpa - WICHTIGER HINWEIS: Gem� ...
Im Sommer möchte Schmidt in den Profifussball zurückkehren.Bild: DPA

Kommt auch ein Schweizer Klub infrage?
Das schliesse ich nicht aus. Ich war nun viele Jahre in der Bundesliga. Volle Stadien, riesige Bedeutung, sieben Tage die Woche maximale mediale Aufmerksamkeit – das ist wie jedes Wochenende Champions League. Das brauche ich.

Kriegt man das als Trainer in der Schweiz?
Ja, mittlerweile steigen auch hier das Interesse und die Zahlen. Wenn die Spiele der Super League regelmässig vor 30'000 Zuschauern stattfinden, sind die Spieler zwar nicht zwingend besser, aber das Ereignis ist packender. Auch in der Bundesliga gibt es Grottenkicks. Und Spiele, die ausserhalb der jeweiligen Fangemeinde kaum interessieren. Aber wenn die Hütte voll ist, macht das halt schon sehr viel aus. Ich schliesse die Schweiz nicht aus, auch weil hier Fortschritte erzielt wurden.

Aber es müsste ein Klub sein, wo das Feuer lodert.
Ja. Ausserdem liegt in der Schweiz noch sehr viel Potenzial brach.

In welchen Bereichen?
Im Staff, im Funktions-Team und daher folglich in der Leistung, die ist planbar. Natürlich ist die Spielerqualität in Deutschland einen Tick höher. Aber der grosse Unterschied ist in der Spielanalyse, Athletik- und sportmedizinischen Abteilung zu finden. Schweizer Spieler, die nach Deutschland kommen, haben gerade im Kraft- und Fitnessbereich häufig die meisten Defizite.

Das ist auch eine finanzielle Frage aus Sicht der Klubs?
Oder ob das Geld richtig investiert wird.

Also doch wieder ein Bürojob?
Nein. Der Trainer sollte meiner Meinung nach der Motor des Vereins sein. Aber das ist in der Schweiz selten der Fall. Manche Trainer hier sind eher das Rad als der Motor und haben bei Transfers und bei der Zusammenstellung des Staffs weniger Einfluss.

Muss es nicht genau so laufen? Schliesslich ist die Halbwertzeit eines Trainers überschaubar.
Nein. Wenn mich jemand als Trainer verpflichtet, dann, weil man mich und meine Spielphilosophie als passend empfindet. Ich sage ja dem Klub nicht, ich will Messi oder Ronaldo. Aber als Trainer hast du eine klare Vorstellung, welche Art von Spielern du für deinen Fussball brauchst. Also muss man dem Trainer die nötige Kompetenz zugestehen. Egal ob unter Tuchel, mir, Svensson oder Henriksen: Nie wurde in Mainz ein Spieler geholt, den der Trainer nicht wollte.

epa05976352 Mainz's headcoach Martin Schmidt during the German Bundesliga soccer match between 1.FC Koeln (Cologne) and FSV Mainz 05 in Cologne, Germany, 20 May 2017. EPA/JOERG SCHUELER EMBARGO C ...
Auch eine Rückkehr in die Schweiz schliesst Schmidt nicht aus.Bild: EPA/EPA

Der Servette-Sportchef René Weiler schliesst einen Trainer-Job in der Schweiz aus, weil nach seinem Gusto zu viele Ahnungslose bei Transfers mitmischen.
Er hat mit seiner Aussage nicht Unrecht, vor allem, wenn bei Transfers Berater und Agenten mitentscheiden. Schliesslich ist der Trainer verantwortlich für die Resultate. Wenn der Schuss hinten raus geht, ist er erledigt. Also muss man ihn bei Transfers doch mitentscheiden lassen.

Denken Sie, dass es irgendwo sonst möglich ist, als Trainer so zu arbeiten wie in Mainz? Nehmen wir Dortmund, da stehen sich die Legenden mit einer Führungsrolle auf den Füssen rum und jeder will seine Ideen durchdrücken. Da hast du als Trainer bei Transfers doch keine Chance.
Der Punkt ist berechtigt. Auch ich habe diese Erfahrungen gemacht. In Mainz wird rund um den Trainer alles organisiert. Selbst der Termin für die Weihnachtsfeier wird mit dem Trainer abgesprochen. Da kommt es nicht vor, dass am Freitag die Weihnachtsfeier stattfindet, wenn am Samstag oder Sonntag ein Spiel ansteht. Dann wird sie eben auf Montag oder Dienstag verschoben. Der Fussball muss im Verein immer im Mittelpunkt stehen. Nochmals: In der Schweiz zu arbeiten schliesse ich nicht aus. Aber ich träume noch immer von Italien oder Spanien.

Wieso Italien?
Grosse Fussballnation, Lebensfreude und ich bin Traditionalist.

Mit Verlaub: Kennt man Sie in Italien?
Ich fahre immer nach Ligurien in die Ferien, dort im Städtchen rufen mir die Leute «Ciao Mister» zu. (Lacht.) Sprachlich wäre ich auf der Höhe «Fortgeschritten». Als Kind beherrschte ich nur das «Baustellen-Italienisch», bis ich Anfang Nullerjahre einen Sprachaufenthalt in Florenz machte. Übrigens habe ich schon Interviews in italienischen Radios gegeben.

Wie das?
Die Medien dort wollten vor zwei Jahren alles über Napolis Meisterschützen Victor Osimhen wissen. Er war früher in Wolfsburg mein Spieler. Aber zurück zu Ihrer Frage: Es gibt in der Serie A ein paar wenige ausländische Trainer, grundsätzlich aber stehen Italiener an der Seitenlinie. Und auf einen Schweizer warten sie dort wohl kaum.

«Links ging es 800 Meter runter, rechts 200 Meter. Das war am Limit, die meisten krochen auf allen vieren, anders ging es einfach nicht.»

Sie sind unter anderem für Ihre unkonventionellen Methoden bekannt. Mit Bundesliga-Profis haben Sie auf 2500 Metern Höhe im Schnee übernachtet. Was steckt dahinter?
Als ich in Mainz Thomas Tuchels Assistent war, beauftragte er mich mit einem Teamevent unter dem Motto «Grenzen verschieben». Wir waren hier im Wallis, in der Massaschlucht, im Klettersteig und zum Schluss gab es die Gipfelbesteigung des Sparhorns auf 3100 Meter. Die Spieler mussten über einen knapp meterbreiten schmalen Grat zum Gipfel laufen, links ging es 800 Meter runter, rechts 200 Meter. Das war am Limit, die meisten krochen auf allen vieren, anders ging es einfach nicht. Solche Methoden nutze ich gerne ergänzend zu den modernen Trainingsmethoden, sie dürfen aber nicht Überhand nehmen.

Sie setzten Millionen aufs Spiel, die Spieler sind das Kapital eines Vereins.
Einheimische Familien spazieren dort mit ihren Kindern rum. Für die Spieler aber war das komplettes Neuland, die meisten rutschten auf dem Hintern den Berg runter, weil sie sich nicht trauten, aufrecht zu gehen. Einige Wochen später in Mainz rollten wir in der Kabine einen schmalen Teppich aus und forderten die Spieler auf, drüber zu gehen. Sie lachten uns aus. Meine Antwort war: «Und warum dann das Zögern auf dem gleich breiten Weg am Berg?» Es ging darum, in den Spielerköpfen das Konsequenz-Denken zu thematisieren und mental aufzuarbeiten. Trainingsweltmeister, die im vollen Stadion ihre Fähigkeiten nicht abrufen können, denken oft zu viel nach: «Wenn ich diesen Penalty verschiesse, sind wir raus!» Solche Gedanken sind Gift – denn Denken hemmt.

Wie sind diese Trips bei den hoch bezahlten Profis angekommen?
Auf 2500 Metern bei minus zehn Grad im Zelt, ohne Handyempfang, übernachten im Massenschlag und am Morgen ein Meter Neuschnee – die Jungs hatten die Gaudi ihres Lebens. In der Nacht vor der Gipfelbesteigung blieben einige an der Bar hängen. Keiner wusste, wann es am nächsten Morgen losgeht. Als wir um halb fünf weckten, wollten sie grad ins Bett. Raten Sie mal, welchen Handyton einige Spieler nach unserem Ausflug ins Wallis hatten?

Jodeln?
Das Horn vom Postauto – «Tü-ta-daaa». Auf der Busfahrt hoch nach Blatten ging einer nach dem nach vorne zum Chauffeur und forderte ihn auf, die Hupe zu drücken. Zurück in Mainz kugelten sich die Jungs vor Lachen, wenn einer einen Anruf erhielt. Anderes Beispiel: Mit Augsburg reisten wir von A bis Z mit dem ÖV ins Wallis: Für uns das Normalste der Welt, für einen Bundesliga-Spieler ist das ein Abenteuer, an das er sich im Gegensatz zu jedem Luxushotel auf den Malediven ein Leben lang erinnert.

Wer an den Lauenensee im Berner Oberland will, soll im Postauto anreisen. So empfehlen es die Beh
Das Horn vom Postauto hatten viele Spieler von Mainz nach dem Ausflug ins Wallis als Klingelton.Bild: sda

Ein Zugreisli allein macht keinen Fussballer besser – was ist die Idee dahinter?
Als Trainer stehen bei mir immer die Menschen im Vordergrund. Kicken kann jeder Profi, aber wenn es untereinander stimmt und gegenseitiges Vertrauen herrscht, sind Grenzen endlos verschiebbar. Wenns menschlich nicht stimmt, käme ein Klub wie Mainz ins Schlingern. Wir aber kamen dank des fantastischen Teamgeists damals in die Europa League. Ich erinnere mich, wie am Berg ein Ersatzspieler plötzlich die Rucksäcke von zwei Führungsspielern trug, weil sie Blasen am Fuss hatten. Das hat die Hierarchie im Team nachhaltig verändert. Wer sich um den Menschen hinter dem Spieler kümmert, der gewinnt immer.

Muss man Spieler öfter aus der Komfortzone holen?
Unbedingt! Die sind teils schon mit 20, 21 Millionäre – und wenn die Karriere mit 35 vorbei ist, beginnen bei vielen die Probleme. Weil sie als Spieler vom Berater und dem Umfeld verwöhnt wurden und sich in der Karriere um nichts kümmern mussten. Wenn ich sehe, dass junge Spieler den Materialwart anschnauzen, wenn der ihnen die falschen Socken in den Spind gelegt hat – dann ist das ein No-Go! Aber man muss auch sehen: Fussballprofis können kaum ein normales Leben führen. Auch für einen Spieler von Mainz ist es mittlerweile fast unmöglich, in einer Bar ein Bier zu trinken, weil er sofort belagert wird und auf Social Media der Shitstorm losgeht, dass er Bier trinkt. Darum haben die Jungs die Zeit in der Berghütte so geschätzt: Dort konnten sie normal sein, die waren wie Kinder, sind stundenlang am Tisch gesessen und haben das Spiel mit dem beissenden Krokodil «Kroko-Doc» oder einfach «Uno» gespielt.

Würden Sie auch mit dem Starensemble von Real Madrid im Schnee übernachten?
Mit denen erst recht! Ich habe noch viele Ideen: Irgendwann möchte ich mit meiner Mannschaft den Ärmelkanal überqueren, mit dem Segelschiff. Eine Gruppe kocht im Schiffbug, andere schrubben das Deck, einige hissen die Segel. Teamwork halt. Aber wie gesagt, überstrapazieren darf man solche Sachen nicht.

epa05284097 Mainz's coach Martin Schmidt before the German Bundesliga soccer match between FSV Mainz 05 vs Hamburger SV in the Coface-Arena, Mainz, Germany, 30 April 2016.
(EMBARGO CONDITIONS -  ...
Auch mit Spielern von Real Madrid würde Schmidt eine Abenteuerreise wagen.Bild: EPA/DPA

Zum Abschluss die Frage: Wie können Sie sich überhaupt wohlfühlen in der Fussball-Glitzerwelt, wo Sie eigentlich doch ganz andere Werte leben?
Wenn jemand fünf Blätter von Haushaltpapier-Rolle abreisst, um einen kleinen Wasserfleck aufzuwischen, rege ich mich auf und sage: «Ein Blatt reicht doch völlig!» So bin ich als Privatmensch, treu den Prinzipien, die ich als Kind gelernt habe. Das Wallis erdet mich, hier gibt es Leute, die wissen bis heute nicht, dass ich 15 Jahre in Deutschland arbeitete, weil ich seit je regelmässig im Wallis weile und am Sonntag auch mal in der Kirche bin.

Und am nächsten Tag verkaufen Sie einen Spieler für 30 Millionen nach England.
Bei jenem Transfer bot der Interessent lange «nur» 25 Millionen, wir bei Mainz 05 beharrten auf 30. Aber jeweils am Abend im Bett sagte ich mir: «Bist du eigentlich noch bei Sinnen, 25 Millionen abzulehnen?» Der Fussball ist eine Parallelwelt mit eigenen Regeln. Wer in diesem Zirkus mitspielen will, muss die Vernunft des einfachen und realen Lebens ein Stück weit ausschalten. (riz/aargauerzeitung.ch)

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