Murat Yakin: «Ob ich der bestbezahlte Natitrainer bin, interessiert mich nicht»
Erst die Gruppenauslosung im bitterkalten Washington, dann fünf Tage Hotels inspizieren im sonnigen Kalifornien: Zu viel für Murat Yakin, 51, den die Grippe zum vorzeitigen Abbruch der US-Reise zwang. Mindestens eine Woche Bettruhe verordnete ihm sein Hausarzt. Trotzdem empfängt uns der Nati-Trainer vier Tage nach der Rückkehr zum Interview.
Zu Weihnachten darf sich jeder etwas wünschen. Welches Team aus dem Quartett Italien, Nordirland, Wales und Bosnien-Herzegowina hätten Sie gerne als vierten WM-Gruppengegner?
Murat Yakin: Klar ist: Wer sich in diesen Playoffs durchsetzt, wird mit Abstand unser stärkster Gegner sein. Es ist schon sehr speziell und nicht ganz verhältnismässig, dass wir aus Lostopf 4 vielleicht Italien bekommen.
Wenn es Italien wird: Fürchten Sie sich vor deren Rache für das 0:2 im EM-Viertelfinal 2024?
Überhaupt nicht, solche Geschichten sind doch das Salz in der Suppe. An einer WM ist das Wichtigste, dass die Spieler den Fokus behalten. Vor einem Duell gegen Italien wäre das garantiert. Abgesehen davon: Die dritte WM in Folge ohne Italien – das darf im Sinne des Fussballs einfach nicht sein!
Womit die Frage nach Ihrem Wunschgegner beantwortet wäre.
Genau (lacht).
Die anderen beiden Gruppengegner sind Katar und Kanada. War die Auslosung ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk?
Es hätte uns schlimmer treffen können, es gibt aber nullkommanull Gründe für Überheblichkeit. Das grösste Geschenk ist, dass wir an der WM dabei sind.
Bricht vor Weihnachten bei Ihrer Frau und den beiden Töchtern jeweils der Geschenke-Wahnsinn aus?
Was heisst hier Weihnachten? Vor einer Woche haben die Mädchen Geburtstag gefeiert und ihre Freundinnen eingeladen. Inklusive Übernachtung. Ich im Haus mit zwanzig Frauen – können Sie sich vorstellen, was da los war?
Zwanzig?
Unsere Hündin eingerechnet (lacht). Ah ja: Das Essen für die Girls musste vegan sein.
Was wünscht sich denn Ihre Frau von Ihnen?
Schmuck. Und nochmals Schmuck.
Wünscht sich Ihre Familie auch mehr Zeit mit Ihnen?
Irgendjemand muss ja auswärts arbeiten und das Geld heimbringen (lacht). Im Ernst: Sie können sich diesbezüglich nicht beklagen.
Ist Nationalcoach der familienfreundlichere Job als Klubtrainer?
Meine Frau ist nun schon lange mit mir zusammen, sie kennt beides und hat sich immer gut angepasst. Einen Vorteil hat der Nati-Job: In den Schulferien habe ich meistens Zeit für die Kinder. Im Klub fängt jeweils mitten in den Sommerferien die Saison an.
Einspruch: Wenn die Schweiz an der WM in die Halbfinals kommt, sind Sie beim Ferienbeginn am Arbeiten.
Wir reisen auf jeden Fall erst nach dem Final in die Sommerferien.
Wird Ihre Familie an der WM vor Ort sein?
Anfangs wegen der Schule sicher nicht, alles Weitere schauen wir mal. Wir wollten im Frühjahr 2025 eine USA-Reise machen, inklusive Besuch des Super-Bowls. Wegen der verheerenden Waldbrände in Los Angeles haben wir es dann abgeblasen. Dorthin zu reisen, während viele Menschen um ihre Existenz kämpfen, wäre unpassend gewesen. Dafür geht’s nun über Weihnachten über den Teich.
Weihnachten in den USA – das tun Sie sich an?
Wir starten in Miami und reisen für die Weihnachtstage weiter nach New York. Die Stadt ist überhaupt nicht nach meinem Geschmack – viel zu viel Bling-Bling und Lärm. Aber als Vater kann man die Wünsche der Töchter nun mal schwer ablehnen.
Es ist offensichtlich: Sie sind der unbestrittene Chef zuhause.
(lacht) Ich habe den Mädchen klargemacht: Das sind die letzten Weihnachtsferien in einem anderen Land. Ab nächstem Jahr gibts nur noch Skifahren in Davos, wenn unser Haus dort endlich fertig ist.
Nehmen Sie uns nochmals zurück an die WM-Auslosung in Washington: Die ganze Show, das Gebaren von FIFA-Chef Gianni Infantino und die Verherrlichung von Donald Trump haben viel Kritik ausgelöst. Wie haben Sie es vor Ort wahrgenommen?
Gianni Infantino hat zu Beginn der Veranstaltung angekündigt, dass es dieses Mal eine etwas andere Auslosung gäbe. Schliesslich seien wir ja in den USA, der Shownation schlechthin. Auf der Bühne standen dann Berühmtheiten, die mein Sportlerherz höherschlagen lassen. Shaquille O’Neal, Tom Brady, Wayne Gretzky – das bringt nur die FIFA zustande. Und dann auch noch Donald Trump.
Ist es wirklich die Aufgabe eines Fussballverbands, einen Friedenspreis zu vergeben? Nimmt sich die FIFA nicht viel zu wichtig?
Mit Blick darauf, was sonst auf der Welt gerade passiert, sind das in meinen Augen eher keine Probleme. Aber ich hätte an einer WM-Auslosung auch nicht so viel Politik erwartet.
Die «New York Times» wählte Sie zum schönsten Trainer der EM 2024. Werden Sie nun deswegen in den USA erkannt?
Um das zu erfahren, war die Zeit rund um die Auslosung zu kurz. Wir sind jedenfalls nicht ausgegangen. Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?
Letztlich darauf, welchen Stellenwert der Fussball in den USA geniesst. Ob Sie glauben, dass er jemals aus dem Schatten der Platzhirsche Football, Basketball, Baseball und Eishockey kommen wird.
Meine Erfahrung beschränkt sich auf unsere US-Reise mit der Nati im vergangenen Sommer, danach bin ich mit dem Staff noch weiter an die Klub-WM gereist. Die Menschen können mit Fussball eher wenig anfangen, weil er für sie nicht greifbar ist. Nehmen wir American Football, mit Abstand die Nummer 1: Diese Sportart ist berechenbar, basiert auf Daten, ist für jeden einfach verständlich, und es passiert dauernd etwas. Ein Fussballspiel endet auch mal 0:0, es kann Aussenstehende langweilen und ich glaube, genau das widerstrebt den Amis. Sie zelebrieren den Sport, bauen 24 Stunden vor Spielbeginn vor dem Stadion den Grill auf und wollen einfach unterhalten werden.
Befürchten Sie leere Tribünen wie an der Klub-WM? Anders gefragt: Warum soll der Amerikaner für Schweiz-Katar ins Stadion?
Der Hype auf die WM scheint riesig zu sein, gemäss der FIFA wurden schon über zwei Millionen Tickets verkauft.
Wer ist Ihr Favorit für die WM 2026?
Ich habe mir im März das 4:1 zwischen Argentinien und Brasilien angeschaut. Was die Argentinier auf den Platz brachten, war absolut beeindruckend. Vor allem ihre Mentalität und Zweikampfhärte. Sie werden der Massstab sein. Aus Europa muss man Spanien und Frankreich auf der Rechnung haben, England hat statistisch die perfekte Qualifikation gespielt.
Deutschland haben Sie nicht erwähnt – bewusst?
Sie können sich ins Turnier reinbeissen. Dafür müssen sie aber erstmals seit 2014 die Gruppenphase überstehen.
Packen Sie bis zum Final am 19. Juli?
Wir haben genügend Material dabei. Und im Notfall gibt es in den USA sicher frische Unterwäsche zu kaufen (lacht).
Bleiben alle Spieler gesund, wird die Schweiz mit der besten Nationalmannschaft an die WM 2026 reisen. Einverstanden?
Die Mischung ist wirklich gut. Da sind die erfahrenen Spieler wie Xhaka, Rodriguez, Freuler und Embolo, die schon viele Turniere erlebt haben. Und dann die jungen Wilden, die aber auch schon mit einer zweistelligen Anzahl Länderspielen an die WM reisen werden. Jeder kennt seine Rolle und – ganz wichtig – akzeptiert diese auch. In den vergangenen vier Jahren hat jede wichtige Entscheidung gepasst. Jetzt haben wir ein schönes Puzzle geschaffen. Wir gehen mit dem Ziel hin, die beste Schweizer Weltmeisterschaft zu spielen.
Macht Sie die Entwicklung der Mannschaft stolz?
Ich erwähne es immer wieder und mit Überzeugung: Es macht mich stolz, Trainer dieser Mannschaft zu sein. Es macht mir Freude, mit diesen Spielern zusammenzuarbeiten. Und ich glaube, das spüren die Spieler auch.
Mussten Sie lernen, dass die Gruppendynamik in einem Nationalteam wichtiger ist als beim Klub?
Als Trainer musst du erst erkennen, wer die Teamplayer sind. Nicht nur bezogen auf die Spieler, sondern auch auf den Staff. Ich musste erst jeden möglichst genau kennenlernen, um zu wissen, mit wem ich welchen Umgang pflegen muss. So konnte ich mit dem Team wachsen. Denn es ist nicht so, dass ich immer und überall weiss, wie der Hase läuft. Ich höre gerne zu, nehme Dinge an. Auch wenn schlussendlich ich entscheiden muss und will. Aber ich bin froh um die erfahrenen Spieler, die mich vielleicht nicht zu einem besseren, aber einem verständnisvolleren Trainer gemacht haben.
Wie steht es eigentlich um Ihren Vertrag?
Nach der EM 2024 haben wir zum wiederholten Mal Gespräche geführt. Dabei wurde er um zwei plus zwei Jahre verlängert.
Das heisst, er läuft bis 2028?
Ich müsste nachschauen. Ich weiss nicht, ob er kurz vor oder nach der EM endet.
Welche Pläne haben Sie noch für Ihr Trainerleben? Oder würde es für Sie stimmen, nie mehr ein anderes Team als die Nati zu führen?
Ich kann mir momentan nichts anderes vorstellen und mache mir auch keine Gedanken über Alternativen. Dafür habe ich meine aktuelle Stelle zu gern. Seit vier Jahren habe ich keinen Agenten mehr und auch die letzten Vertragsverhandlungen habe ich selber bestritten.
Mit einem Agenten hätten Sie Vladimir Petkovic als bestbezahlten Natitrainer der Geschichte eventuell überflügelt. Oder ist Ihnen Geld nicht mehr wichtig?
Unwichtig würde ich nicht sagen.
Ist es also nicht entscheidend, ob Sie 200'000 Franken mehr oder weniger verdienen im Jahr?
Ich bin zufrieden mit meinem Lohn. Ich sagte vor der letzten Vertragsverlängerung: Macht euch Gedanken, was ihr mir bezahlen könnt. Und das war in Ordnung so für mich. Mir ist bewusst, dass die Corona-Pandemie ein Loch in die Verbandskasse gerissen hat. Und nun kommen die Kosten für das neue Swiss Football Home in Thun. Klar, am Ende habe ich auch meine Rechnungen zu bezahlen. Und Leistung, die wir zweifellos erbracht haben, soll honoriert werden. Aber ob ich jetzt der bestbezahlte Natitrainer bin oder nicht, interessiert mich nicht.
Bei 2,5 Millionen pro Jahr können Sie gut reden.
(lacht laut). Puh, da habe ich aber noch ein grosses Ziel vor mir.
Spass beiseite: Wie viele Klubs können sich vorstellen, Murat Yakin als Trainer einzustellen?
Keiner.
Wie gesagt: Spass beiseite.
Es ist aber so. Ich habe mich in dieser Sache völlig abgeschottet. Jeden Agenten, der mich mit einem Angebot oder einem Interesse konfrontiert, wimmle ich sofort ab. Es gibt nichts am bestehenden Vertrag mit der Schweiz zu rütteln.
Hat nie irgendein Scheich mit einem Transporter voller Geldbündeln gelockt?
Mir ist schon klar, dass ich in manchem Klub gut ankommen würde. Aber es ist nicht der richtige Zeitpunkt. Ich habe ein klares Bekenntnis zur Nati abgegeben. Und das hat sich in der Szene rumgesprochen. Der Yakin ist momentan nicht vermittelbar.
Falls Sie mit der Schweiz die EM 2028 bestreiten, werden Sie Petkovic in der Liste der dienstältesten Trainer überholen und hinter Teddy Duckworth (1923 bis 1933) und Karl Rappan (1942 bis 1949) Platz drei im Ranking belegen. Müssen Sie sich selbst manchmal kneifen, wenn Sie über ihren Aufstieg sinnieren – vom Sohn türkischer Einwanderer zum Nationaltrainer?
Von aussen betrachtet wirkt es vielleicht spektakulärer. Denn ich selbst habe jeden kleinen Schritt erlebt. Trotzdem ist es eine schöne Geschichte. Vor allem für die Schweiz, die vielen Menschen von ausserhalb ein besseres Leben ermöglicht hat.
Als Bub sind Sie mit Ihrer Mutter und Bruder Hakan in den Sommerferien jeweils mit unzähligen Plastiktaschen in Basel in den Zug gestiegen, um nach Istanbul zu fahren.
Ich werde bis zum letzten Tag meines Lebens dankbar sein, dass ich in der Schweiz gross werden durfte. Ich bin dankbar, dass mir Schweizer Tugenden und Werte vermittelt wurden. Und ich bin auch dankbar, dass ich eine glückliche Kindheit erleben durfte, obwohl wir phasenweise auf Sozialhilfe angewiesen waren. Weil meine Mutter nicht gut Deutsch sprach, musste ich schon als Teenager Behördengänge machen oder die Elternabende meines Bruders besuchen. Das tönt jetzt vielleicht nicht sehr fröhlich, sondern entbehrungsreich. Aber das alles hat mich zu jenem Menschen gemacht, der ich heute bin. Ein verantwortungsbewusster, ehrgeiziger Mann, der sich bewusst ist, nie ausgelernt zu haben.
Sehen Sie in Granit Xhaka etwas von Ihnen selbst?
Es gibt Parallelen. Auch seine Eltern kamen aus dem Ausland. Auch er musste Widerstände überwinden. Auch er hat die Möglichkeiten genutzt, die sich ihm hier geboten haben. Er hat etwas Grosses aus seinem Talent gemacht. Und wie ich von ihm vernehme, will er auch mal Trainer werden. Er bringt alle Voraussetzungen dafür mit. Aber es ist ein harter Weg.
Ist Xhaka ein Spieler, bei dem Sie alle Hebel in Bewegung setzen, um ihn von einem Nati-Rücktritt abzubringen? Bei anderen, wie Xherdan Shaqiri, haben Sie das nicht gemacht.
Alle Spieler kommen freiwillig zur Nati. Aber sie sind sich bewusst, dass die Leistungen in der Nati einen grossen Einfluss auf ihren Marktwert haben. Wenn sich aber verdienstvolle Spieler zum Rücktritt entscheiden, passiert das in der Regel nicht von heute auf morgen. Ein Rücktritt Xhakas würde einen riesigen Verlust bedeuten. Aber sechs Monate vor dem Turnier will ich gar nicht darüber nachdenken, ob es seine letzte WM sein könnte.
Welche Signale empfangen Sie von Xhaka?
Ein Nati-Rücktritt ist die wohl schwierigste Entscheidung im Leben eines Fussball-Profis. Denn mit einem Nati-Rücktritt leitet man das Ende der Karriere ein. Man spielt vielleicht noch ein paar Jahre weiter im Klub. Aber was nach dem Nati-Rücktritt folgt, ist meist nur noch ein Ausklingen der Karriere.
Etwas ausklingen lassen tönt nicht nach dem 33-jährigen Xhaka.
Richtig. So lange er fit ist … Luka Modric ist auch mit 40 noch der Beste bei Milan. Ich kann mir bei Granit nicht vorstellen, dass er findet, er wolle etwas kürzertreten und deshalb nicht mehr für die Schweiz auflaufen.
Wer ist für Sie der Aufsteiger der Saison?
Johan Manzambi von Freiburg. Vor einem Jahr kannte ihn fast keiner. Und jetzt ist er einer der begehrtesten Spieler der Bundesliga.
Und wird als Stammspieler zur WM reisen?
Ich weiss nicht. Wir sind in der Offensive gut besetzt mit Dan Ndoye, Ruben Vargas und Fabian Rieder. Stammspieler muss er sich erst verdienen.
Dafür bleiben ihm zwei Testspiele im März, die es in sich haben: Gegen Deutschland und die aufstrebenden Norweger. Warum haben Sie sich für diese zwei harten Brocken entschieden?
Einerseits sind wir selbstbewusst genug für Duelle mit den Besten. Andererseits waren uns die Deutschen noch ein Testspiel schuldig.
Wie kommt das?
Weil die Schweiz 2018 Martina Voss-Tecklenburg trotz laufendem Vertrag als Trainerin zum deutschen Fussballbund ziehen liess, wurde uns als Gegenleistung ein Heimspiel versprochen. Und Norwegen hat uns angefragt.
Ihr Ex-Teamkollege und Nati-Rekordtorschütze Alex Frei verkauft jetzt Käse. Gibt es auch in ihrem Leben Berufsträume ausserhalb des Fussballs?
Ich kann mir nicht vorstellen, ganz ohne Fussball zu sein. Was mich sehr interessiert, ist Architektur. Aber wie viele andere Dinge auch schaffe ich es, mich neben dem Fussball damit zu beschäftigen.
Welches ist aus architektonischer Sicht das schönste Fussballstadion?
Schwierig, meist sehe ich nur die Katakomben und das Stadion von innen. Wo ich noch nie war, aber unbedingt hin will, ist das umgebaute Bernabéu in Madrid. Umbau ist ja per se komplizierter als Neubau.
Und in der Schweiz?
Ich mag die Ambiance in St. Gallen und Basel. Aus architektonischer Sicht gefällt mir die Arena in Luzern am besten (aargauerzeitung.ch)
