Spüren Sie in Deutschland Vorfreude auf die Frauen-EM?
Martina Voss-Tecklenburg: Teilweise. Wenn ich selbst unterwegs bin, sprechen mich unheimlich viele Leute an, die ich auch gar nicht kenne, und rufen: «Hey, jetzt ist doch dann die Europameisterschaft, wir drücken die Daumen!» Gleichzeitig las ich kürzlich in einer Zeitung den Titel: «Diesen Sommer gibt’s kein grosses Fussballturnier.» Das erschreckt mich dann schon.
Nervt das?
Ich bin einfach echt verwundert. Das ist eine subjektive Sichtweise, wir müssen damit leben. Aber wer so etwas schreibt, muss schon mit der Frage leben, ob der jetzt einen guten Job macht.
Wird es eine EM der Rekorde?
In Teilbereichen sicher. Die Gelder, die ausgeschüttet werden. Das Interesse der vielen TV-Stationen. Klar ist auch: Sportlich wird es ein herausragendes Turnier. Ich wünsche mir einfach, dass die Fans nicht nur in die Stadien strömen, wenn die Engländerinnen spielen. Dass sie als Gesellschaft sagen: Wir tragen jetzt zum Erfolg dieser EM im Mutterland des Fussballs bei.
Wer wird Europameister?
Phuu (überlegt), nein, das ist komplett unmöglich zu sagen! Die Teams sind derart ausgeglichen, ob jetzt England, Schweden, Dänemark, Holland, Spanien, Frankreich, Norwegen oder auch Deutschland, es ist so vieles offen. Es ist sogar tatsächlich so, dass keine Mannschaft sich sicher sein kann, in die K.O.-Phase zu kommen. Das ist cool, da wollten wir immer hin.
Was trauen Sie der Schweiz zu? Die Vorrundengruppe mit Schweden, Holland und Portugal ist sehr schwierig.
Ich bin überzeugt, dass es für Schweden und Holland kein Selbstläufer wird, wenn die Schweiz alle Spielerinnen an Board hat. Das wissen die aber auch. Die Schweiz darf sagen: wir haben eigentlich nur etwas zu gewinnen! Niemand erwartet, dass da drei Siege kommen.
Zuletzt entstand der Eindruck, einige Länder haben die Schweiz im Frauenfussball ein- und überholt. Einverstanden?
Das ist schwierig zu beurteilen aus der Distanz. Was sicher stimmt: Es sind nicht mehr ganz so viele Spielerinnen im Ausland bei Topvereinen engagiert wie zu meiner Zeit. Crnogorcevic bei Barcelona, Bachmann beim PSG, sowie Wälti und Maritz bei Arsenal noch. Früher waren es manchmal 16 Spielerinnen. Einige sind in die Schweiz zurückgekehrt. Andere, junge Spielerinnen müssen sich zuerst etablieren und entwickeln. Das Ziel muss schon sein, bei Teams unterzukommen, die auch regelmässig Champions League spielen. Nur da holt man sich die nötige Erfahrung. Der Druck, das Spieltempo, alles was sonst dazukommt in der Crunch Time, woher sollen diese Erfahrungen auch sonst kommen?
In diesem Frühling gab es immer wieder Rekord-Schlagzeilen. In Barcelona besuchten 91’553 Fans das Champions-League-Spiel der Frauen gegen Real Madrid. Was löst das aus?
In erster Linie ist es wichtig, dass da eine Haltung transportiert wird. Und zwar des ganzen Vereins. Wenn Barcelona sagt: Wir wollen das jetzt unbedingt! Wir ziehen das jetzt alle gemeinsam durch. Logisch ist so ein Spiel dann ein Highlight-Moment, wo auch viele Tickets geschenkt oder sehr preiswert waren. Das funktioniert nicht über die ganze Saison. Aber es ist faszinierend, wie der Boom rund um den Verein, den sich Barcelona dank herausragender sportlicher Leistungen auch erarbeitet hat, an einem Abend so kulminiert. Viele Fans wollten bestimmt auch Teil dieses Weltrekords sein. Und dieser löst dann auch wieder etwas aus, das nachhaltig sein kann.
Wie hat sich denn die Haltung der Gesellschaft gegenüber dem Frauenfussball in den letzten Jahren verändert? Braucht es wieder einen Schub?
Ich finde, da hat ganz vieles stattgefunden. Nur noch nicht in der Kontinuität und Nachhaltigkeit. Ich stelle aber fest, dass Corona auch wieder vieles reduziert hat, was angeschoben wurde.
Inwiefern?
Viele Kinder bleiben plötzlich weg vom Sport, sitzen zu Hause an den Konsolen und suchen sich eine andere Beschäftigung.
Ist das Ihr Eindruck oder haben Sie Zahlen dazu?
Dazu gibt es – leider – klare Zahlen. Es wartet eine grosse Aufgabe auf uns, die Menschen zurückzuholen. Aber dazu müsste man halt auch ein Sportland sein. Ich finde, ganz kritisch gesprochen: Was das angeht, ist Deutschland kein Sportland. Wir reduzieren den Schulsport, wir schliessen Schwimmbäder und Turnhallen. Andere Länder machen uns da einiges vor. Ich blicke jetzt mal auf das kleine Island, wo ich das Gefühl habe, dass jeder Mensch, der dort geboren wird, in irgendeiner Weise Sport macht. Weil es kulturell anders gelebt, gefühlt und unterstützt wird.
Aus der Schweiz betrachtet haben wir, wenn es um Unterstützung für den Sport geht, häufig das Gefühl: Deutschland ist eben ein Sportland…
Das ist auch eine Definitionsfrage. Wir haben wahnsinnige Erfolge in gewissen Sportarten, die Schweiz ja auch. Aber ich schaue nicht explizit auf den Spitzensport, sondern auf das, was dahinter kommt. Wenn wir an der Basis immer mehr verlieren, wird es auch schwierig, auf Dauer Talente zu generieren. Und da habe ich den Aspekt der Volksgesundheit noch nicht einmal erwähnt.
Ein grosses Thema ist seit jeher die Sichtbarkeit des Frauenfussballs. Sind Sie zufrieden mit den jüngsten Entwicklungen?
Auf Deutschland geschaut: Ja, da ist vieles passiert. Es ist mittlerweile möglich, alle Spiele der Bundesliga im Fernsehen zu schauen dank Magenta TV. Die Highlights des Topspiels kommen in der ARD. Aber klar, auch wir brauchen unsere Highlight-Momente, müssen auf den öffentlich-rechtlichen Sendern präsent sein. Auch wenn man heute sagt, die Jungen, die streamen ja nur noch, aber wir haben nicht nur junge Leute in unserer Gesellschaft, die wird im Gegenteil immer älter, meine Eltern streamen nicht, die schalten ARD und ZDF ein und wollen dort Fussball sehen. Darum brauchen wir auch dort mehr Sendezeit, zur Prime-Time. Und dass unsere Ergebnisse genannt werden. Dieser Kampf geht weiter.
Wie viel Wachstum ist noch möglich im Frauenfussball?
Wir sind wirklich auf einem guten Weg. Wenn ich nur auf die sportliche Entwicklung schaue, dann ist das mittlerweile enorm gut. Ich sass beim Champions-League-Final im Stadion, Lyon gegen Barcelona. Da ist mein Fussballherz aufgegangen, es war eines der besten Fussballspiele, das ich in den letzten Jahren gesehen habe. Und sage bewusst Fussballspiele und nicht Frauen-Fussballspiele. Es war ein Benchmark für den Fussball in ganz vielen Bereichen. Das sind Spiele, die noch sichtbarer gemacht werden müssen. Dann wird es irgendwann auch so sein, dass jemand den Fernseher anstellt und sagt: Wow, das ist ein geiles Fussballspiel. Und eben nicht, «ein geiles Frauen-Fussballspiel».
Daran glauben Sie?
Ja, da werden wir hinkommen – zumindest im Spitzenbereich. Ich bin überzeugt, dass die anstehende EM die Entwicklung der letzten Jahre spiegelt. Wir werden viele tolle Teams sehen und viele spannende Spiele auf richtig gutem Niveau. Und dann hoffe ich einfach, dass die Leute, die das sehen, das auch erkennen und mittragen und sagen: cool, da schalte ich beim nächsten Mal auch wieder ein oder gehe ins Stadion, weil mir das gefällt. Da sehe ich schon noch viel Potenzial.
Eine anderes Problem scheint, dass einige Top-Spielerinnen nach ihren Karrieren nicht im Fussball bleiben. Aber gibt es denn genügend Jobs für Frauen im Fussball?
Auf jeden Fall. Ich glaube, wir haben eher zu wenig Frauen. Wir brauchen aber noch mehr Frauen, die den Fussball als berufliche Perspektive und Chance sehen. Und natürlich muss sich der Männerfussball weiter öffnen, weil ich glaube, dass Diversität – oder besser gesagt: diverse Teams – die leistungsstärksten Teams sind. Mir ist da der Männerfussball immer noch zu eindimensional unterwegs.
Was braucht es, dass sich das ändert?
Männer, die sich öffnen für die Frauen. Und erkennen, dass Frauen und Mädchen im Fussball ein Mehrwert sind.