Pierre de Coubertin organisierte die ersten Olympischen Spiele der Neuzeit 1896 in Athen. Was würde er wohl denken, wenn er sähe, welche Ausmasse die Spiele in Paris 2024 angenommen haben?
Alexandra de Navacelle de Coubertin: Was ihm Ende des 19. Jahrhunderts vorschwebte, war die Schaffung eines Treffens für Frieden und Fortschritt. In Paris stehen heute Themen wie Inklusion, Gleichheit und Umwelt im Vordergrund. Mein Grossonkel würde sich darüber sicher sehr freuen. Ein kleines Beispiel, wie sich die Dinge entwickeln: Heute haben die Olympischen und im September sodann die Paralympischen Spiele erstmals dasselbe Logo. Das heisst, wir gehören alle zur selben Familie - und die Spiele sind eine Plattform für alle 206 Länder der Welt, die etwas Grösseres als Nationalismus anstreben, einen Treffpunkt für den Frieden.
206 Länder, das sind mehr, als die UNO an Mitgliedern zählt.
Dabei sind eben auch völkerrechtlich nicht anerkannte Länder wie Palästina oder Taiwan. Kleinstaaten wie die Salomonen leisten denselben olympischen Schwur wie die Grossstaaten, haben in Paris dieselben Rechte und Prinzipien wie die USA oder China.
In Coubertins Sinn wäre es sicher auch, dass Gastgeber Emmanuel Macron alle kriegsführenden Nationen um eine dreiwöchige Waffenruhe vor und während der Spiele bittet.
Ja. Hoffen wir, dass sie eingehalten wird.
Die Krieg führenden UNO-Mitglieder Russland und Weissrussland sind in Paris nicht dabei. Ihre Sportler können individuell teilnehmen, wenn sie sich vom Krieg distanzieren. Ist das Ihrer Meinung nach die richtige Formel?
Als Familienverein der Coubertins äussern wir uns nicht zur Politik. Wir pochen auf die Anwendung der olympischen Regeln, die besagen: Wer Krieg führt, ist an den Spielen nicht willkommen.
Wie vor dem Ersten Weltkrieg herrscht in Europa wieder Krieg. Müsste Coubertin nicht frustriert sein?
Natürlich gibt es immer noch Kriege und Ungleichheit. Coubertin war sich bewusst, dass seine Idee allein keinen Weltfrieden bringen würde. Er wollte etwas in Bewegung setzen, etwas, das sich weiterentwickelt, etwas, wofür wir sorgen müssen, weil es nie erreicht oder gewonnen ist.
Ein schönes Ideal – aber gab Coubertin letztlich nicht selbst nationalen Reflexen nach, indem er nach dem Ersten Weltkrieg Frankreichs und Englands Gegner Deutschland, Österreich, Italien oder die Türkei ausschloss?
Ich denke nicht, dass Pierre de Coubertin Frankreich bevorzugen wollte. Er stiess mit seinen damals revolutionären, angelsächsisch geprägten Ideen von Sport und Universalismus in seinem eigenen Land auf Ablehnung. Die ersten Spiele fanden 1896 in Athen statt, weil Paris sie nicht wollte. Coubertin kämpfte sehr allein. Die olympischen Spiele nahmen erst in Stockholm 1912 mit einer Eröffnungsfeier die heutige Form an. 1920 kam in Antwerpen sodann das olympische Logo dazu - fünf Ringe, die mein Ur-Onkel eigenhändig gezeichnet hatte, um die Verflechtung der Kontinente und Länder zu symbolisieren.
Die Versuche, die Spiele politisch zu instrumentalisieren, scheinen so alt wie die Spiele selbst …
Mein Ur-Onkel wusste, dass gerade autoritäre Regime erpicht sind auf olympische Medaillen. Aus diesem Grund publiziert das Internationale Olympische Komitee (IOK) keine Medaillenspiegel.
Ganz nach Coubertins Devise, Mitmachen sei wichtiger als Siegen?
Das deklamierte er erst später. Sein Slogan lautete zuerst: «Das Wichtigste ist nicht, zu siegen, sondern zu kämpfen.»
Pierre de Coubertin sagte auch, Frauensport sei «unästhetisch» und «nicht interessant» …
Es gibt von ihm andere Zitate zu dem Thema. Vergessen Sie jedenfalls nicht das Umfeld: Frauen durften damals kein Bankkonto besitzen, sie durften keine nackten Arme zeigen. Heute, bei den Spielen von 2024 wird in Paris erstmals eine komplette Parität der Geschlechter herrschen. In London nahmen 2012 45 Prozent Frauen teil, in Tokio vor vier Jahren 47 Prozent. Jetzt werden es 50 Prozent sein.
Ihrem Ur-Onkel wurde vorgeworfen, er habe sich vor dem Zweiten Weltkrieg nicht klar genug vom Faschismus abgegrenzt. Und er habe sich rassistisch geäussert.
Ich habe seine 34 Bücher, seine 16'000 Artikel und Reden auf diese Vorwürfe hin durchforstet. Und ich habe festgestellt, dass all die umstrittenen Zitate aus dem Zusammenhang gerissen sind. Bei den Olympischen Spielen von 1904 in Saint-Louis im US-Bundesstaat Missouri bezeichnete er sich als schockiert über die dortige Rassensegregation; in Paris verurteilte er notorische Antisemiten wie Edouard Drumont. Und bei den Spielen von 1936 in Berlin sagte er in seiner Ansprache im Beisein Hitlers und aller Nazis, keine Nation, keine Klasse, kein Beruf dürfe ausgeschlossen werden, keine Rasse sei überlegen. Nein, Coubertin war kein Rassist. Was wiederum zutrifft: Er war für den Kolonialismus, wie so viele seiner Zeit.
Mit der Folge, dass Sportler aus Entwicklungsländern nicht für ihre Heimat starteten, sondern für Kolonialstaaten wie Frankreich oder Grossbritannien. Das war damals überall so, nicht nur an den Spielen, sondern zum Beispiel auch in den Armeen. Bei den ersten Spielen in Athen hielt ein Radfahrer an und wartete, bis sein Rivale einen Materialfehler behoben hatte. Gibt es das heute noch?
Ja, es gibt noch solche Beispiele von olympischem Sportsgeist. Etwa das heroische Verhalten der syrischen Schwimmerin Yusra Mardini 2016 in einem Flüchtlingsteam.
Früher waren nur Amateursportler zugelassen, heute sind auch Profis dabei. Ändert das die Einstellung?
Die Athleten dürfen an den Spielen weiterhin nicht bezahlt werden. Das olympische Treffen soll auch eine Pause vom kommerziell-finanziellen Denken sein. Natürlich ist der Sport ein Geschäft. Das ist allerdings nicht die Schuld Coubertins, der sich zeitlebens für den Amateursport einsetzte. Er zahlte anfangs alles aus seiner Tasche, sogar die Medaillen-Diplome. Später musste ihn die Olympia-Stadt Lausanne beherbergen; 1937 starb er völlig ruiniert.
Die Weltverbände der einzelnen Sportarten erhalten immer mehr Macht. Ist das im Sinne Coubertins?
Es stimmt, diese Verbände nehmen heute die Auswahl der Athleten vor, koordinieren die Abläufe. Das IOK kann die Auswahl nicht mehr selbst erledigen, dafür gibt es zu viele Disziplinen und Sportler. Die Spiele sind zum grössten Sportereignis der Welt geworden, mit einer ungeheuren medialen Wirkung. Ob das Coubertin gewollt hätte, ist schwer zu sagen, auch wenn er die Dinge stets pragmatisch anschaute.
Coubertins Geist ist also nicht tot?
Ganz im Gegenteil. Denken Sie nur an den gemeinsamen Auftritt von nord- und südkoreanischen Sportlern bei den Winterspielen von 2018 in der südkoreanischen Region Pyeongchang - von zwei Ländern, die seit den 1970er-Jahren miteinander im Krieg sind! Das war ein starker Auftritt. Was die Politik damit macht, ist eine andere Frage.
Die weltweiten Spannungen nehmen allerdings gerade zu, wie zur Zeit Coubertins.
Umso wichtiger ist es, dass der olympische Geist gepflegt wird! Das heisst gemäss Coubertin, dass die Menschheit Fortschritte machen, etwas aufbauen muss.
Noch eine Frage zu Ihrem Familienverband. Was macht er konkret?
Wir arbeiten mit dem IOK in einzelnen Komitees für Kultur und olympisches Erbe zusammen und zwar alles auf Freiwilligenbasis. Wir organisieren Ausstellungen, jetzt gerade eine im 7. Stadtbezirk von Paris, wo Coubertin lange Zeit gelebt hat, und dazu eine Tagung an der Sorbonne-Universität. (aargauerzeitung.ch)