Wir haben doch alle mal fasziniert vor dem Fernseher gesessen und Wrestling geschaut. Wie die Athleten durch den Ring flogen, sich mit Stühlen verprügelten und durch Tische rammten. Hier war alles möglich. Sogar, dass ein 1,68 Meter grosser und 79 Kilogramm schwerer Mann wie Rey Mysterio einen Koloss von 2,13 Metern und 174 Kilogramm wie The Big Show besiegt.
Wrestling war das Grösste – bis wir herausfanden, dass alles nur Show ist. Man hätte es sich denken können, aber wir waren ja noch jung.
Und doch blieb beeindruckend, was die Wrestling-Stars zeigten: Saltos vom oberen Seil, Sprünge aus mehreren Metern Höhe auf einen Gegner oder andere artistische Leistungen. Eigentlich sind Wrestlerinnen und Wrestler eine Mischung aus Ringern, Schauspielerinnen und Kunstturnern. Trotzdem verlieren die meisten von uns irgendwann das Interesse an der durchgeskripteten Show.
Am Wochenende passierte jedoch etwas, das selbst frühere Fans wieder aufhorchen liess. Denn John Cena – dieser Gutmensch der Wrestling-Welt – hat die Seiten gewechselt. Plötzlich ist der Mann mit den Jeans-Shorts nicht mehr der liebe Kerl, der stets das Richtige tun will. Cena, den wohl jeder kennt, der in den letzten 25 Jahren einmal Wrestling geschaut hat, ist jetzt ein Bösewicht. Und das erstmals seit 2003.
Das Spiel mit den Emotionen wird im Wrestling – allen voran bei der WWE, dem berühmtesten Verband – schon lange gespielt. Manche Kämpfer mag man, manche hasst man schon fast, weil sie das Boshafte in Person zu sein scheinen. Und diese Rollen wechseln ständig. Der Kämpfer, der in einem Moment noch der bösartigste Mensch der Welt ist, wird wenige Wochen später bejubelt. Und aus einem Publikumsliebling kann schnell mal ein Buhmann werden.
Nur John Cena trotzte den Gesetzen der Wrestling-Welt lange. Bis jetzt.
Denn am Wochenende trug sich schier Unglaubliches zu. Beim Spezial-Event Elimination Chamber setzte sich Cena gegen fünf Kontrahenten durch und sicherte sich so ein Titelmatch für Wrestlemania, das grösste Event der Schaukampf-Szene, das mittlerweile an zwei Tagen vor insgesamt rund 150'000 Fans ausgetragen wird. Dort trifft er Mitte April auf Cody Rhodes, den WWE-Champion. Dieser kam nach Cenas Sieg in der Nacht auf Sonntag in den Ring, um seinem neuen Herausforderer zu gratulieren.
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— Netflix UK & Ireland (@NetflixUK) March 2, 2025
Die Szene wurde aber von Dwayne «The Rock» Johnson, der gemeinsam mit Rap-Star Travis Scott in den Ring kam, unterbrochen. The Rock verlangte von Rhodes, dass sich dieser unter seine Fittiche begebe und «sein Champion» werde. Mit seinem Einfluss könne er Rhodes' Karriere in neue Sphären bringen. Doch der amtierende Champion und Publikumsliebling lehnte mit deutlichen Worten («Go fuck yourself!») ab.
Der mittlerweile 47-jährige Cena bekundete ihm erst seinen Respekt, umarmte Rhodes – und trat ihm dann nach einem Zeichen von The Rock in die Weichteile, bevor er ihn mit dessen Uhr und seinem Titelgürtel verprügelte.
Damit vollzog Cenas Charakter den sogenannten Heel-Turn, also den Wechsel von den Guten (Faces) zu den Bösen (Heels). Und so geschah etwas, was für viele lange undenkbar erschien. Etwas, gegen das sich der Schauspieler und Rapper lange wehrte – selbst als die Fans ihn deshalb ausbuhten, weil sie von ihm einmal etwas Neues sehen wollten. John Cena ist erstmals seit knapp 22 Jahren ein Bösewicht.
Nach dem Event sagte Paul Levesque, besser bekannt unter seinem Ringnamen Triple H und verantwortlich für die Geschichten und den Lauf der Dinge in der WWE: «Ich glaube, das ist eine dieser Nächte, an die sich die Leute in 20 Jahren noch erinnern werden. Ich weiss nicht, ob ich jemals einen kraftvolleren Moment erlebt habe.»
Schnell kamen Vergleiche mit dem Heel-Turn von Hulk Hogan im Jahr 1996 auf. Ein ähnlich seismisches Ereignis sei nun das Geschehen um Cena, das Triple H zur Chefsache erklärt habe. Selbst intern hätten nicht alle Bescheid gewusst und habe der Chief Content Officer falsche Angaben im Ablaufplan gemacht, damit nichts nach aussen dringen würde.
Dass Cenas Seitenwechsel nach so langer Zeit gerade jetzt geschieht, ist umso überraschender, da er seine Wrestling-Karriere Ende Jahr beenden möchte. Schon seit 2018 ist er nur noch teilweise aktiv, in Zukunft will sich der US-Amerikaner, der unter anderem bei mehreren «Fast and Furious»-Filmen sowie in «Barbie» mitspielte, komplett aufs Schauspielen konzentrieren. So ist das Match bei Wrestlemania in Las Vegas eine seiner letzten Chancen, um zum alleinigen Rekord-Weltmeister gemäss WWE zu werden. Bisher teilt er sich die Bestmarke mit 16 Titeln mit Ric Flair.
Wann Cena zum nächsten Mal im Ring auftreten wird, ist noch unklar. Für die TV-Show «RAW» in der Nacht auf Dienstag ist er nicht angekündigt. Aber ziemlich sicher wird er in den nächsten Wochen häufiger im Ring zu sehen sein – und vielleicht sitzt ja dann auch der eine oder andere alte Wrestling-Fan wieder gebannt vor dem Fernseher. Wobei nicht sicher ist, ob sich das lohnt. Denn eigentlich wissen wir ja alle, dass wir John Cena nicht sehen können.