Seit Jahren verfolge ich die europäischen Topligen nah. Als wirklichen Fan eines Klubs würde ich mich nicht bezeichnen. Einige Sympathien habe ich: Liverpool, Marseille, Milan und Nicht-Bayern. Barcelona oder Real? Hans was Heiri. Sevilla ist noch cool.
In diesem Herbst hat sich aber ein Team in mein Herz gespielt, das ich vorher noch gar nicht kannte: Benevento Calcio. Aufsteiger in Italien. Den Durchmarsch haben sie von der Serie C geschafft, 60'000 Einwohner zählt die Stadt bei Napoli. Die Chancen auf den Ligaerhalt wurden von Experten schon vor der Saison sehr tief geschätzt. Vielleicht lag es an den 24 Zuzügen und 21 Abgängen. Das Einzige, was mich stört am Klub. Man wolle sich halt «rüsten» für die Juve, Inter und Milan, hiess es.
Der Saisonstart verlief fast optimal. Benevento ging in seinem allerersten Spiel in der höchsten Liga nach 15 Minuten in Führung. Schneller waren nur die obenerwähnten Topklubs. Benevento verlor dann zwar 1:2 gegen Sampdoria, aber die erste Visitenkarte war gezeigt.
Dann aber folgten 13 Niederlagen.
Aus dem Märchen wurde ein Alptraum. Benevento war plötzlich weltweit bekannt. Als Losertruppe. Dabei fehlte in den ersten 14 Partien teilweise nur sehr wenig für einen Punktgewinn. Denn obwohl die Süditaliener klar Letzter sind, am wenigsten Tore erzielt, am meisten Tore kassiert haben und mit nur einem Pünktchen dastehen: Chancenlos waren sie selten.
Neun der 14 Niederlagen setzte es mit einem Tor Differenz ab. Zweimal fiel der entscheidende Gegentreffer erst in der Schlussphase (8. Runde Hellas Verona, 14. Runde Atalanta), gegen Rekordmeister und Titelverteidiger Juventus führte der Aussenseiter auswärts in Turin sogar bis zur 57. Minute.
Wirklich dramatisch wurden die Punkte aber dreimal verschenkt. Auch als ziemlich neutralem Beobachter zerriss es mir dabei fast das Herz:
Als die Saison noch jung war, dachte beim 1:0 für Torino in der 93. Minute durch Iago Falque noch niemand, dass dies NICHT die knappste Niederlage bis zur 15. Runde werden wird.
Es folgte die 10. Runde gegen Cagliari. Aufstiegstrainer Marco Baroni wurde durch Roberto De Zerbi ersetzt. Warum es bei Benevento einfach nicht so läuft, zeigt das 1:0 der Mannschaft aus Sardinien:
Benevento hatte in der Folge Glück, dass Cagliari einen Elfmeter verschoss. Doch dann: 94. Minute und Penalty für den Aufsteiger. Pietro Iemmello behält die Nerven und gleicht aus. Die Partie ist jedoch noch nicht zu Ende. Cagliari darf noch einmal anspielen, greift an – und trifft mit der letzten Aktion durch Leonardo Pavoletti zum 2:1:
Zwölf Niederlagen hatte Benevento aneinandergereiht und damit den Uraltrekord einer Top-5-Liga Europas von Manchester United aus dem Jahr 1930/31 egalisiert. Gegen Sassuolo wurden die Süditaliener dann dramatisch alleiniger Rekordhalter. Das 0:1 ist ein riesiger Bock des Torhüters. Benevento gleicht aber aus und wehrt sich ab der 67. Minute in Unterzahl gegen die Niederlage.
In der Nachspielzeit steht ihnen gar das Glück bei: Sassuolos Domenico Berardi schiesst einen Elfmeter an die Latte. Der erste Punktgewinn scheint Tatsache. Aber mit dem allerletzten Angriff macht Federico Peluso in der 93. Minute das 2:1 für Sassuolo doch noch. Wieder nichts. Den peinlichen Rekord mit 13 Niederlagen zum Saisonstart ist Manchester United nach 87 Jahren doch noch losgeworden.
Die Leidensgeschichte wurde immer länger. Präsident Oreste Vigorito erklärte vorsichtshalber schon mal: «Die Hexen sind schuld.» Seit Jahrhunderten gehören sie zum Ort. Der Spitzname «Stadt der Hexen» zeigt dies ebenso wie das Klubwappen.
Was auch immer der Grund für die Niederlagen war: Was mich seit Wochen in den grossen Ligen fast am meisten interessierte, war, ob Benevento endlich den ersten Punkt holte. Immer war die Hoffnung vergebens.
95. Minute, 1:2-Rückstand gegen das grosse Milan. Ein Freistoss noch. Auch Goalie Alberto Brignoli stürmt nach vorne. Und dann passiert das:
Benevento gleicht aus und holt sich im 15. (!!!) Anlauf den ersten Punkt der Saison. Was für eine Last fällt da von den Spielern. Der Jubel ist grenzenlos.
Die Chancen auf den Ligaerhalt bleiben klein. Neun Zähler beträgt der Rückstand aktuell (heute spielt noch Genoa gegen Hellas Verona, dann könnte der Rückstand auf zehn Punkte anwachsen).
Aber wer weiss: Vielleicht gibt so ein dramatischer Punktgewinn wie gegen Milan den nötigen Schub. Womöglich kippt nach dem ersten Torwarttor in der Serie A seit 16 Jahren das Glück auf die Seite der Kicker aus der Hexenstadt.
Der Bann ist gebrochen, aber das Mitfiebern geht weiter. Wann gibt es den ersten Sieg? Startet Benevento jetzt die Aufholjagd? In den nächsten Runden geht es mit Udinese, SPAL Ferrara und Genoa gegen drei Klubs aus den unteren Regionen.
Wir erinnern uns an Crotone im letzten Jahr. Der damalige Aufsteiger holte in den ersten zehn Partien zwei Punkte, nach 15 Partien hatte sie sechs Zähler auf dem Konto. Es wird ein sehr, sehr schwieriges Unterfangen. In den letzten vier Jahren brauchte es in der Serie A 32, 38, 34 und 32 Zähler für den Ligaerhalt. Im besten Fall also müsste Benevento in den ausstehenden 23 Partien zehnmal gewinnen und ein Remis holen.
Hoffentlich bleibt das Mitfiebern um den Ligaerhalt trotzdem bis zum Saisonende. Und vielleicht wird aus dem Alptraum doch wieder ein Märchen. Eigentlich sollten Klubs wie Benevento nie absteigen dürfen.