Was haben wir nicht geträumt vor dieser EM! Die Dänen haben mit dem Titelgewinn 1992 schliesslich auch alle Grossen überrascht. Die Griechen haben es ihnen 2004 nachgemacht. Und dazwischen haben Schweden (1994), Kroatien (1998) oder die Türkei (2002) an Weltmeisterschaften für Furore gesorgt.
Alle diese Länder haben mit der Schweiz eines gemeinsam: Nur wenn mehrere wichtige Faktoren zusammenkommen, dann können sie Erfolg haben. Mehrere überdurchschnittlich talentierte Jahrgänge, eine schlaue, auf die eigenen Fähigkeiten zugeschnittene Taktik, ein günstiger Spielplan, das notwendige Wettkampfglück. Stimmt eine Variable nicht, wird es für Nationen aus der zweiten Reihe schwierig.
Bei der Nati hat an dieser EM sehr vieles gestimmt. Dass die Schweizer Auswahl des Jahres 2016 überdurchschnittlich talentiert ist, wird niemand bestreiten. Die Spielweise war klug gewählt und von der defensiven Spielzentrale mit Granit Xhaka und Valon Behrami herausragend umgesetzt. Der Spielplan meinte es gut mit der Schweiz: Albanien und Rumänien waren in der Gruppenphase keine Übermannschaften, Polen im Achtelfinal ein Gegner auf Augenhöhe.
Was fehlte, war das, was sich nicht kontrollieren lässt, auch nicht im modernen Fussball mit seinen unzähligen technischen Hilfsmitteln: die Tagesform, das Wettkampfglück. Derdiyoks Abschluss kurz vor dem Ende der Verlängerung geht an einem anderen Tag rein. Sommer hält von fünf Penaltys im Schnitt einen oder er provoziert den Schützen, dass er das Tor verfehlt.
Es sind diese Unwägbarkeiten, wegen derer wir den Fussball so lieben. Sie machen uns so grosse Freude, wenn unser Team auf der Siegerseite steht. Und sie stürzen uns in Trauer, wenn wir auf der Verliererseite sind. Wer bei den Schweizern das Fehlen eines Sieger-Gens diagnostiziert, ist auf dem Holzweg.
Trotzdem sind immer die anderen dran mit einem Exploit. Auch heute: Gut zwei Stunden nach dem Schweizer Out zieht das kleine Wales in den EM-Viertelfinal ein. Es interessiert niemanden, dass der Gegner dorthin bloss Nordirland hiess. Aber die Aussichten, dass bald einmal die Nati an der Reihe sein kann, sind vorhanden. Und das stimmt uns positiv.
Nationaltrainer Vladimir Petkovic, lange sehr umstritten, hat vieles, vielleicht gar alles richtig gemacht. Dass der langjährige Captain Gökhan Inler aus dem Kader gestrichen wurde, war zu keinem Zeitpunkt bemerkbar. Petkovic setzte auf die defensive Stärke der Schweiz, Xhaka erwies sich als der Chef auf dem Feld. Bleibt er gesund, dürfen sich die Fans freuen, einen wie ihn in der Mannschaft zu haben.
Die Schweiz ist mit einem der jüngsten Teams zu dieser EM angetreten. Bloss für die beiden ältesten Stammspieler könnte es das letzte grosse Turnier gewesen sein. Captain Stephan Lichtsteiner, der vor allem von seinem Speed lebt, wird an der WM 2018 in Russland 34-jährig sein. «Krieger» Behrami ist ein Jahr jünger, er wurde aber schon in der Vergangenheit – auch durch seine aufopferungsvolle Spielweise – häufig von Verletzungen ausgebremst.
Ansonsten aber zeigt der Blick in die Spielerpässe des EM-Kaders, dass der Schweizer Nati einige gute Jahre bevorstehen können. Breel Embolo, Denis Zakaria und Nico Elvedi sind noch keine 20 Jahre alt. Regisseur Xhaka und die anderen U17-Weltmeister, Ricardo Rodriguez und Haris Seferovic, sind 23- bzw. 24-jährig. Xherdan Shaqiri und Fabian Schär haben den 25. Geburtstag ebenfalls noch vor sich; Admir Mehmedi und Michael Lang feierten diesen vor wenigen Monaten. Und im Tor kann sich die Schweiz in den nächsten Jahren aller Voraussicht nach auf das Trio Sommer (27), Roman Bürki (25) und Marwin Hitz (28) verlassen.
Aber wer weiss schon im Detail, wie sich die Zukunft präsentieren wird. Kann Embolo die riesigen Hoffnungen, welche die Fussball-Schweiz in ihn setzt, erfüllen? Wird Xhaka nach dem Wechsel zu Arsenal die Premier League so rocken wie die Bundesliga? Schaffen junge Talente wie Nico Elvedi oder Shani Tarashaj den Schritt zum Nati-Stammspieler? Bleibt Shaqiri, der grösste offensive Trumpf, endlich wieder über längere Zeit ein Aktivposten? Qualifiziert sich die Schweiz überhaupt für die WM? Können in Russland die besten Spieler dabei sein? Oder fehlen wichtige Stützen verletzt? Fragen über Fragen.
Da und dort war nach dem Erreichen der Achtelfinals und in Anbetracht des Turnierbaums bereits die Rede von einer Jahrhundert-Chance. Vielleicht war sie das wirklich. Vielleicht hat diese – Phrasenschwein bereit halten! – «goldene Generation» gegen Polen tatsächlich eine einmalige Möglichkeit für einen Exploit verspielt.
Wer schwarzmalen will, der darf das. Ich bevorzuge die andere Sichtweise. Nach einer sachlichen, nicht von Emotionen gelenkter Analyse überwiegen die positiven Eindrücke. Falls die Schweizer in naher Zukunft lernen, nicht nur das Mittelfeld zu dominieren, sondern auch mehr Tore zu erzielen, dann ist diese Zukunft eine rosige.
Sensationen, wie sie Dänen oder Griechen geschafft haben, lassen sich nicht planen. Aber die Schweizer Nati hat gute Gründe, weiter davon zu träumen.