Das Sportbusiness des 21. Jahrhunderts besteht aus einer Zauberformel. Sie beinhaltet Wahrung der sportlichen Traditionen und Werte, Geldbeschaffung und der Kunst, sich staatlicher Hilfe zu sichern. Gerät diese Zauberformel aus der Balance, gibt es ein Problem. Wie jetzt beim Lauberhorn.
Kaum einer hat diese Problematik so gut verstanden wie Urs Lehmann. Der Abfahrtsweltmeister von 1993 (sein einziger Sieg) ist der Prototyp eines modernen Sportfunktionärs. Er behauptet sich im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne, Politik und Kommerz.
Als Unternehmer versteht er etwas von der Kunst des Geldmachens, als begabter Kommunikator spielt er auf der Klaviatur der Selbstdarstellung alle Klassiker (keiner hat aus einem einzigen Sieg eine so grosse Karriere gemacht) und er durchschaut als Flachländer aus dem Aargauischen eine Sportkultur mit einer hochalpinen DNA und dem etwas beengten Blickfeld zwischen hohen Bergen.
Der Konflikt zwischen den «Lauberhornern», den Machern des spektakulärsten Skirennens und der Verbandsobrigkeit ist allein schon von der personellen Besetzung her wie ein helvetischer Heimatfilm. Hier der smarte, weltgewandte, in geschäftlichen Dingen agile Bösewicht aus dem Unterland, dort Urs Näpflin, der fest auf felsigem Grund geerdete König vom Lauberhorn. Und natürlich darf im Hintergrund als versöhnlicher Übervater Adolf Ogi nicht fehlen.
Die ganz besondere Mentalität der Berner Oberländer, des «Homo Alpinus Bernese»», der Menschen aus den fünf Talschaften Hasli, Lütschinentäler, Kander-, Simmen- und Saanetal, spielt in diesem Rührstück «Skigeld und Berggeist» eine wichtige Rolle. Um den Naturgewalten standzuhalten und trotz der Kärglichkeit des Arbeitsertrages auszuharren, erfordert mehr als staatliche Subventionen. Dieser Kampf erfordert ein Mass an Kraft, Ausdauer und Heimatliebe, das dem Unterländer heute eher fremd ist. Diese jahrhundertelange Auseinandersetzung mit den Kräften der Natur hat den eigenwilligen Charakter der Berner Oberländer geformt und zuweilen bis zur Starrköpfigkeit verhärtet. Dieser Charakterzug kann sich selbst gegen den Staat und den Skiverband richten. Solches muss bedenken, wer sich gewohnt ist, das Berner Oberland nur nach touristischen Gesichtspunkten zu beurteilen.
Diese eigenwilligen Berner Oberländer sind die Gralshüter des Lauberhornrennens, das seit 1930 jedes Jahr ausgetragen worden ist. Es bestand schon, als noch niemand Wörter wie VIP, Vermarktung, TV-Verträge oder Weltcup kannte. Man ist unbeschadet sogar durch die Fährnisse des Weltkrieges gekommen. Was will da einem ein «Verbands-Löli» aus dem Flachland vorschreiben? Hier oben sind wir die Herren und Meister, und über uns nur Gott der ewige Schöpfer der Bergwelten. Und sonst niemand und schon gar nicht der Präsident des Skiverbandes.
Aber es läuft schon lange nicht mehr wie zu den Zeiten von Johanna Spyri, Heidi und Alpöhi. Geld, TV-Verträge, VIP’s und Vermarktung sind auch über den Skirennsport und das Lauberhorn gekommen. Die Romantik des Lauberhorn-Gründervaters Ernst Gertsch ist für immer verloren. Der Aufwand ist immens geworden, und ohne staatliche Hilfe und fremdes, flachländisches und womöglich gar ausländisches Geld wäre es nicht mehr möglich, das Rennen durchzuführen.
Aber eines ist klar: Wenn es Geld gibt für unser Lauberhorn, dann gehört es den Männern vom Lauberhorn. Es kann ja wohl nicht sein, dass die Flachländer, womöglich gar ein vorlauter Verbandsgeneral wie Lehmanns Urs, einen schönen Teil dieses Geldes für sich abzweigt, das wir erwirtschaftet haben, das wir unserer Natur und unserer Arbeit verdanken.
Aber eben: Die Zeiten haben sich geändert. Die Österreicher, ein bisschen weltoffener, haben den Berner Oberländern den Rang im Wildheumachen noch lange nicht abgelaufen. Wohl aber im Geldmachen mit Skirennen. Längst ist Kitzbühl profitabler als das Lauberhorn. Das weiss Urs Lehmann, dieser Magier der Selbstinszenierung und des sonstigen Verkaufes sehr genau. Er sieht, wie viel Geld aus diesem Rennen herauszuholen wäre, ärgert sich, dass diese Geldquelle nicht erfasst wird. Denn von einem Mehrertrag könnte auch sein Skiverband profitieren. Skiverbände leiden nämlich fortwährend an Geldmangel. Sie müssen den Skisport finanzieren, beispielsweise Trainer löhnen, Trainingslager und Nachwuchsausbildung finanzieren, Reisespesen erstatten, und die Funktionäre möchten doch auch dieses oder jene Reisli machen und in noblem Herbergen nächtigen.
Das Lauberhorn schien für die Verbandsfunktionäre eine uneinnehmbare Trutzburg zu sein. Ohnmächtig schauten die Funktionäre hinauf zu den für die Ewigkeit geschaffenen Felsen. Aber die Geschichte lehrt uns, dass Berge nicht uneinnehmbar sind. Alexander Suworow hat Ende der 1700er Jahre mit einer Armee von mehr als 20'000 Mann in 20 Tagen sieben Alpenpässe überwunden. Das war eine schier unfassbare Heldentat, und deshalb erinnert im Urnerland heute ein Denkmal an den mutigen russischen General.
Eigentlich hätte Lauberhorn-General Urs Näpflin, ein «Bärgbueb» wie aus einem Hit der Boss-Buebe, diese ungeheuerliche Provokation gelassen ignorieren können. Kein Verbandspräsident kann es sich leisten, das berühmteste Skirennen der Schweiz im Rahmen eines Machtkampfes zu opfern. Er würde im Schneesturm einer landesweiten Empörung die Orientierung verlieren, aus Amt und Würden gefegt und stünde künftig als «Landesverräter» unseres Sportes da.
Aber Urs Näpflin hat sich, trotzig und stolz wie die Berner Oberländer nun mal sind, von Urs Lehmann provozieren lassen. Und siehe da, dieser Hauskrach der schweizerischen Skifamilie ist ein öffentliches Thema geworden, das umso mehr interessiert, weil ja das Sportgeschehen ruht. Und weil das Berner Oberland das Lauberhorn auch für seine touristische Werbung braucht und weil die ganze Auseinandersetzung eine Bühne zur Selbstdarstellung bietet, steigen nun auch die Politiker ein. Und natürlich als Vermittler auch Alt-Bundesrat Adolf Ogi, der allseits hoch respektierte Übervater aller unserer Skifunktionäre und alpinen Politiker.
Das Ende dieser Geschichte wird ein Happy-End sein. Urs Lehmanns Rechnung wird aufgehen. Die Gralshüter des Lauberhorns werden sich dem kommerziellen Zeitgeist ein wenig öffnen und mehr Geld erwirtschaften, und Urs Lehmann kann für seinen Verband weiterhin viel TV-Geld behalten. Weil er der Bluff von der Streichung des Lauberhorns vom Kalender öffentlich schlau inszeniert hat, sind die Politiker aufgescheucht, und künftig wird es aus öffentlichen und halböffentlichen Kassen Jahr für Jahr einen noch höheren sechsstelligen, ja vielleicht sogar einen siebenstelligen Beitrag ans Lauberhornrennen geben. Und alle im Flachland und in den Bergen werden zufrieden sein.
Zur Krönung seiner grandiosen Skikarriere fehlt Urs Lehmann nur noch eines: die Wahl zum Präsidenten des internationalen Skiverbandes FIS, also zum höchsten Skifunktionär der Welt. Wer das Lauberhorn bezwingt, müsste eigentlich auch diesen Gipfel erreichen.