Heute geht’s los, Frauen-EM, Basel, Schweiz gegen Norwegen. Ich gehe mit meiner Tochter hin, 14, und mit meinem Sohn, 12. Beide sind entspannt, weil sie wissen, dass wir einen erfreulichen Abend erleben werden, unabhängig vom Endresultat. Keine Fanausschreitungen, keine sterbenden Schwäne, kein Schummeln, kein Zeitschinden. Ehrlicher, cleaner Fussball.
Wenn eine Spielerin nach einem Zweikampf heute Abend am Boden liegenbleibt, dann ist sie verletzt. Sonst steht sie wieder auf, kickt weiter. Bei den Männern werden bei jedem Spiel zehn Tote gezählt. Oft sterben einzelne Spieler gleich mehrmals pro Spiel. Immer derselbe Zirkus. Eine Berührung an der Schulter, peng, der Spieler fällt mit einem Kopfschuss zu Boden. Als ob es keine Zeitlupe gäbe, Fernsehbilder. Wie dämlich! Wie ärgerlich!
Während einer Sitzung der Technischen Kommission der FIFA hatte ich seinerzeit den Vorschlag gemacht, die Bilder der billigen Schauspieler live im Stadion auf die riesigen Videobildschirme zu projizieren. Öffentliche Blossstellung als erzieherische Massnahme. Franz Beckenbauer war dagegen, er befürchtete Fankrawalle. Ich finde die Idee vom virtuellen Pranger nach wie vor gut. Sobald mehr Geld im Spiel sei, höre ich Freunde sagen, würden die Frauen sich irgendwann den Männern anpassen, im negativen Sinn. Das denke ich nicht.
Denn im Gegensatz zu vielen männlichen Fussballkollegen stehen die Frauen mit beiden Beinen im Leben. Die meisten Spielerinnen werden nach ihrer Karriere nicht von dem leben können, was sie jetzt bei Klubs wie dem FC Barcelona oder Arsenal verdienen, wer in der Schweiz bleibt, schon gar nicht. Die Frauen sind gezwungen, sich neben dem Spitzensport weiterzubilden, am normalen Leben teilzunehmen.
Viele internationale Topspieler hingegen bewegen sich in einer Parallelwelt, in einer Blase, ohne Bezug zur Realität. Wer in der Branche vernünftige Gespräche führen will über den Fussball hinaus, redet vorzugsweise mit Frauen. Sie sind in der Regel authentischer, bleiben nahbar, geerdet.
Selbstverständlich gibt es auch vernünftige Fussballer, coole, intelligente, und selbstverständlich gibt es auch doofe Frauen. Aber ein Neymar, beispielsweise, kann nur ein Mann sein, obwohl er als Mädchen bezeichnet wird, was doppelt falsch ist. Wäre er ein Mädchen, würde er gleich wieder aufstehen nach einem Rempler, so wie meine Tochter und ihre Mitspielerinnen. Oder er würde erst gar nicht hinfallen ohne Berührung.
Man stelle sich vor, Neymar hätte die Mens, man müsste ihn mit der Schaufel vom Rasen tragen beim ersten Schmerz. Oder Vinicius Jr. von Real Madrid, ein anderer Held. Was für ein fantastischer Fussballer, was für eine Heulsuse! Welch ironische Rollenverteilung: Die Männer geben die Susis, die Frauen die tough guys!
Die gesellschaftliche Bedeutung des Frauenfussballs kann man nicht in Toren bemessen. Es geht um Haltung: Respekt, Fairness, Toleranz, Integration, Diversität. Der Frauenfussball steht für Werte, die der Männerfussball zu verlieren droht. Werte, weswegen heute ganze Familien nach Basel reisen, zum Auftaktspiel der EM.
Für die Generation meiner Tochter ist Fussball so selbstverständlich wie Musik, Tanzen, Skifahren. Zum Geburtstag wünschen sich die Mädchen Schminktasche und Schienbeinschoner.
Und doch ist die Reise noch lang, wie die Debatte um eine 1:7-Niederlage im Trainingsspiel der Frauen-Nati gegen Junioren des FC Luzern zeigt. Die Häme, der Heilige Zorn in den Sozialen Medien – als steckte man noch in einem vergessenen Jahrhundert. Leider haben sich die Frauen das Ei selbst gelegt. Ich stelle mir die nächste Lohnrunde vor, wenn Nati-Captain Lia Wälti gleiche Prämien verlangt wie die Männer.
Es ist das, wofür der Frauenfussball heute steht, was ihn wertvoll macht, nicht die Muskelkraft. Ja, eine gewisse Nostalgie schwingt hier mit, der Traum vom sauberen Sport. Sie weigere sich zu akzeptieren, dass man betrügen muss, um erfolgreich zu sein, sagt Nationaltrainerin Pia Sundhage in einem bemerkenswerten Interview im «Tages-Anzeiger». Es ist wegen solchen Frauen, weshalb sich das Stadion heute füllen wird.
Walter De Gregorio ist ehemaliger FIFA-Direktor für Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit. Heute arbeitet er als Berater für internationale Sportpolitik.
Ich bin Pro virtuellen Schwalben-Pranger.
Und zusätzlich finde ich noch, dass nur der Captain mit dem Schiri diskutieren sollte. Jeder andere Spieler sollte sofort eine Karte bekommen.
Wie wahr, wie wahr.
Aber in punkto "Männer"-Fussball gebe ich dem Verfasser recht. Was da abgeht ist nur peinlich. Einer der vielen Gründe warum ich diesen "Sport" nicht schaue.