6. Juni 2020, 11:00 Uhr. Die ersten Geisterspiele auf Schweizer Boden werden angepfiffen. Eines davon ist Aarau gegen Thun. Im Kultstadion Brügglifeld. Offiziell gilt die Partie als «Training unter Ausschluss der Öffentlichkeit». Es ist zwar bloss ein Testspiel, vermittelt aber trefflich den Grove rund um ein Geisterspiel. So wie auf dem Brügglifeld würden die Chronistinnen und Chronisten wohl nach einer harmlosen Reaktorstörung auf dem Gelände des Atomkraftwerkes Gösgen zu einer Medienorientierung empfangen.
Alle wissen, dass man so tun muss, als sei es eine sehr, sehr ernste Sache. Aber eigentlich spielen alle nur noch Theater. Freundliche Männer und Frauen, das Gesicht hinter einer Maske verborgen, stehen vor den verschiedenen Eingängen und weisen den Weg. Und beim Tor, wo der Besucher schliesslich Einlass findet, wird auf einer Liste nachgeprüft, ob man angemeldet ist.
Fieber wird beim Gast nicht gemessen. Eine Maskenpflicht gibt es auch nicht. Aber er wird höflich gefragt, ob er sich gut fühle. Ja, es geht ihm gut. Er darf eintreten. Das Spielfeld sei eine rote Zone. Dort dürfen sich nur die Spieler, der Trainer, der Präsident und zwei Fotografen aufhalten. Aber keine Chronisten. Dem schreibenden Volk werden Plätze ganz oben auf der Medientribüne zugewiesen, das sei eine gelbe Zone. Die Stühle stehen im Abstand von zwei Metern. Die Ersatzspieler sitzen unten auf der Tribune. Sie wahren ebenfalls die Sicherheitsabstände. Wie genau eigentlich die Vorschriften sind, und ob es noch eine grüne Zone gebe, weiss niemand zu sagen. Gottseidank ist die Stadionbeiz offen. Wahrscheinlich hat sich gar niemand die Mühe gemacht, den ganzen Papierkram zu studieren.
Die beklemmende Düsternis eines Hockey-Geisterspiels fehlt. Das Spiel findet ja draussen unter freiem Himmel statt. Und nicht in einer geschlossenen Arena. Für einmal gibt es die Romantik des wahren Fussballs auch bei den Profis. Die Romantik des Regionalfussballs nämlich. Fast keine Zuschauer (also im Brügglifeld sind gar keine), aber engagiertes, zügiges Spiel.
Die Zurufe der Spieler sind viel lauter als bei einem Amateurspiel. Im leeren Stadion ist jedes Wort zu hören. Es gibt nie Ruhe. Die beiden Goalies ordnen ihre Hintermannschaft gelegentlich so laut wie ein Feldweibel eine undisziplinierte Rekrutentruppe auf dem Kasernenhof und manchmal gibt es Kommandos mit dem Charme eines welschen Akzentes.
Die Art und Weise, wie sich die Spieler beider Teams immer wieder durch Zurufe ordnen, mahnt an einen Vogelschwarm, der seine Formation in der Luft durch gegenseitiges Schnattern und Krächzen zusammenhält.
Eine Analyse ist natürlich nicht gefragt. Als es mich dünkt, in der ersten Halbzeit sei auf der rechten Seite, dort wo Captain Stefan Glarner, der Bruder des Schwingerkönigs für Thun verteidigen sollte, herrsche gar viel Durchzug, raunzt der Kollege neben mir, was ich denn von Fussballtaktik schon verstehe. Er ist im Besitz aller Trainerdiplome, also schweige ich schmollend. Dabei habe ich vor 30 Jahren ab und an als Goalie in der 3. Liga die Abwehr sortiert.
So friedlich und freundlich ist der Fussball sonst nur noch bei Partien am Samstag oder Sonntag auf den lokalen Fussballplätzen. So gesehen sind «Geisterspiele» also überhaupt kein Problem. Bei so viel Gemütlichkeit bleibt viel Zeit, um sich ein wenig mit den «Fussballgenerälen» zu unterhalten. Beispielsweise mit Andres Gerber, seit gut zehn Jahren Sportchef bei Thun und einer der wenigen, der im heimischen Fussballgeschäft den gesunden Menschenverstand noch nicht verloren hat.
Nun wird also am 19. Juni die Meisterschaft doch noch fortgesetzt. In leeren Stadien («Geisterspiele») und die «Geister-Meisterschaft» geht erst Anfang August zu Ende. So spät wie kaum in einer anderen Liga. Und nach einem interessanten Zwiegespräch mit Thuns Sportchef bleibt nur noch eine Erkenntnis: Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.
Andres Gerber erzählt, welche Auswirkungen diese unsinnige Fortsetzung der Meisterschaft im täglichen Fussballleben hat. Dabei geht es nicht um die Sicherheitsvorschriften rund um die Organisation der «Geisterspiele». Es geht ums «Eingemachte». Um die wirtschaftliche Situation der Vereine. Weil die Meisterschaft nun anderthalb Monate länger dauert, müssen Spieler mit auslaufenden Verträgen länger bezahlt werden. Kostet zusätzlich Geld. Da viele Verträge offiziell Ende Juni auslaufen, ist nach wie vor nicht klar, ob dann ein Spieler für den Rest der Meisterschaft den Klub wechseln darf.
Wäre die Meisterschaft abgebrochen worden, hätte Thun seine Spieler bis Ende Saison zu 80 Prozent über die Kurzarbeitsregelung finanzieren können. Andres Gerber sagt, bei Thun verdiene keiner mehr als der maximal versicherbare Lohn von 148'000 Franken. Und interessanterweise vermutet er, bei Aarau gebe es besser bezahlte Spieler als bei Thun.
Keine Zuschauereinnahmen, kein Geld mehr aus der Kurzarbeitskasse und grosse Rechtsunsicherheit bei den Spielerverträgen: Diese «Geistermeisterschaft» ist für die Klubs der höchsten Liga ein Minusgeschäft. Die hohen TV-Gelder sind bei ausländischen Ligen ein zwingender Grund, die Meisterschaft mit «Geisterspielen» zu Ende zu bringen. In der Bundesliga sind die TV-Gelder selbst bei einem sportlichen Lotterteam wie Paderborn mit fast 30 Millionen gut doppelt so hoch wie das gesamte Budget des FC Thun. Die Berner Oberländer dürfen hingegen aus dem Topf der TV-Gelder diese Saison bloss knapp 2 Millionen erwarten. Die TV-Gelder sind kein Grund, die Meisterschaft bei uns zu Ende zu spielen.
Es wäre alles so einfach gewesen: die Meisterschaft vorzeitig beenden wie in den Amateurligen, viel, viel Geld sparen, in aller Ruhe das neue Championat vorbereiten. Aber die Klubs haben ohne Not die «Geistermeisterschaft» beschlossen. Warum hat eigentlich Thun der Fortsetzung trotzdem zugestimmt? Andres Gerber weiss es eigentlich auch nicht so recht. Man habe wohl halt nichts ausrichten können. Und wie soll der Tabellenletzte glaubwürdig gegen eine Fortsetzung argumentieren, wenn alle wissen, dass man ja so all seine Abstiegssorgen loswürde? Ein Sportchef macht es in ligapolitischen Dingen wohl am besten wie im Militär: das Denken den höheren Dienstgraden überlassen, sich mit der Situation abfinden und einfach das Beste draus machen.
Und so ist die Fortsetzung der Meisterschaft für die Klubs der höchsten Liga eigentlich nichts anderes als Geldvernichtung. Die Finanzchefs könnten auch in einer Tonne auf dem Stadionparkplatz einfach Geld verbrennen. Dann aber würde die Polizei energisch einschreiten. Es ist verboten, im Freien Feuer zu entfachen, und zudem würden sich wohl mehr Schaulustige einfinden, als zurzeit erlaubt sind (300).
Aber vielleicht wird ja Christian Constantin zum Wohltäter unseres Fussballs. Der streitbare Sion-Vorsitzende hat das Geld und die Chuzpe, um gegen die Liga juristisch vorzugehen und auf dem Rechtsweg die Fortsetzung der Meisterschaft zu stoppen. Inzwischen ist es vielen Klubgenerälen bei dieser Sache sichtlich unwohl: Diese «Geistermeisterschaft» bietet, weil sie über die Dauer der Spielerverträge hinaus weitergeführt wird, sehr gute Ansatzpunkte für eine erfolgreiche Klage. Und erstinstanzlich ist für Christian Constantin im Wallis sowieso jede Klage ein Freispiel.
Die Klubs haben sich einem Entscheid zu unterziehen, den sie selbst gefällt haben. Also lässt sich jetzt keiner mehr kritisch zitieren. Aber einige hoffen ganz tief in ihrer Fussballseele, dort wo keiner hineinsieht, Christian Constantin möge bitte, bitte klagen und auf juristischem Weg das absurde Theater dieser «Geistermeisterschaft» doch noch beenden.
P.S. Aarau und Thun trennten sich 1:1 (1:0). Tore: Damir Mehidic 1:0, Matteo Tosetti 1:1.
Und Pro-Tipp an alle Klubs: Verkauft Geistertickets. Wer treue Fans hat, holt noch ein paar Batzeli.