Es muss unendlich schön sein, ein Skispringer zu sein. Anfahren, abheben, fliegen. Ein uralter Traum der Menschheit, der für einige Sekunden wahr wird.
Beim Skifliegen segeln die Athleten während sieben, acht Sekunden in die Tiefe. Und landen dann mit einem Puls jenseits der 200 Schläge pro Minute, wie mir Simon Ammann einst erzählte.
Man kann leicht nachvollziehen, dass dieser Adrenalinkick süchtig macht. Dass man das Gefühl, einem Adler gleich in die Tiefe zu stürzen, immer und immer wieder erleben will.
Einmal bat ich Ammann, für uns Laien einen Vergleich zu machen, damit wir eine bessere Vorstellung von seinem Sport erhalten. «Im Sommer war ich im Europapark», erzählte er. «Skispringen ist, wie wenn man auf der schnellsten Bahn aus dem Wagen springt und dann mit 100 km/h auf zwei Ski landet.»
Ein eindrücklicher Vergleich, der mir in Erinnerung geblieben ist. Und mit ihm geblieben ist die Bewunderung für jede und jeden einzelnen, der sich auf den Schanzen dieser Welt hinunterwagt.
Wir stammen beide aus dem Obertoggenburg und wir sind beide fast gleich alt. Über die Schanze in Wildhaus, auf der Ammann das Skispringen erlernte, war ich als Kind auch einmal gehüpft. Das Gefühl war super, und man sagte mir, das seien zwanzig Meter gewesen. Es waren vermutlich eher zehn, aber sie fühlten sich an wie fünfzig. Weil ich körperlich näher an den Schwingern war, war Skispringen aber nie eine Option.
Während meine Karriere als Flieger mit dem Schnupper-Nachmittag auf Alpin-Ski beendet war, schickte sich Simon Ammann an, der erfolgreichste Wintersportler der Schweizer Olympia-Geschichte zu werden. Zwei Mal Gold 2002 in Salt Lake City, zwei Mal Gold 2010 in Vancouver. Doppel-Doppel-Olympiasieger – einmalig!
Der erste Triumph ist mittlerweile mehr als zwei Jahrzehnte her. Immer wieder erstaunlich, wie schnell die Zeit vergeht. Ich sehe es noch lebhaft vor mir, wie Jörg Abderhalden und Nöldi Forrer, die beiden starken Männer aus dem Toggenburg, Gold-Simi nach der Rückkehr aus den USA in die brechend volle Tennishalle in Unterwasser tragen. Zwei Schwingerkönige und der König der Lüfte.
Die goldenen Tage – Ammann wurde auch Weltmeister und gewann den Gesamtweltcup – sind längst vorbei. Bald sind sieben Jahre vergangen, seit Ammann letztmals auf einem Weltcup-Podest stand. Und der letzte Sieg ist nächste Woche exakt zehn Jahre her: Im November 2014 gewann Ammann zwei Weltcupspringen im finnischen Kuusamo. Den einen Sieg feierte er punktgleich mit Noriaki Kasai, dem anderen, noch älteren Flugsaurier. Der Japaner, der diesen Winter im zweitklassigen Continental Cup beginnt, ist mittlerweile 52 Jahre alt.
Nichts ist im Skispringen ausgeschlossen. Aber wenn es Simon Ammann noch einmal auf ein Podest schafft, dann gleicht das einem Sportwunder. Er springt, weil er es kann und weil er es liebt. Und so lange er in der nationalen Ausscheidung gut genug ist, kann ihm niemand vorwerfen, er stehe Nachwuchssportlern im Weg. Das Gegenteil ist der Fall: Wenn man zu einem Skispringer aufschauen kann, der in seiner Karriere schon ganz oben und auch weit unten war, ist das sehr wertvoll.
Drei Kinder, ein forderndes HSG-Studium, zahlreiche private Projekte – anderen 43-jährigen Vätern wäre das alleine schon fast zu viel. Simon Ammann schafft es, zusätzlich noch wie ein Profisportler zu leben und zu trainieren. Seine jahrzehntelange Disziplin und seine Beharrlichkeit sind mindestens so bewundernswert wie die Tatsache, dass jemand überhaupt den Mut aufbringt, an einem Schanzentisch den festen Boden unter den Füssen aufzugeben.
Mittlerweile fliege er mit Reserve, sagt Ammann, er suche nicht mehr das absolute Limit und sei sich seiner Verantwortung als Familienvater bewusst. Er hätte schon lange aufhören können, er muss niemandem mehr etwas beweisen. Doch er will nicht aufhören. Er habe neue Dinge ausprobiert, aber noch keine neue Leidenschaft gefunden.
Eine Teilnahme an den Olympischen Spielen 2026 in Cortina bezeichnete Ammann im Februar als «nicht realistisch». Er sagte allerdings auch: «Ich mache keine Pläne mehr, aber Olympia nochmals in Europa zu erleben, wäre schon ein Traum.»
Ammann weiss und spürt, dass auch er nicht jünger wird. Irgendwann werde ihm sein Körper sagen, es sei jetzt genug. Aber noch gibt die 173 Zentimeter grosse und 60 Kilogramm leichte Maschine dem Geist grünes Licht. Und so macht Simon Ammann weiterhin das, was er vielleicht am allerliebsten macht.
Am Wochenende tritt er im norwegischen Lillehammer zu den ersten Weltcupspringen des Winters an. Nicht mehr für den Ruhm. Sondern um sich mit viel Fleiss, Hingabe und Leidenschaft den ewigen Traum vom Fliegen zu erfüllen.
Alles guete!