Christian Stucki schmettert im Schlussgang Joel Wicki mit einem gewaltigen Wurf nach 41 Sekunden auf den Rücken. Die drei Kampfrichter – einer im Sägemehlring, zwei am Tisch, geben das Resultat. Christian Stucki ist König. Welch wunderbarer Abschluss eines Festes, das alle Dimensionen gesprengt hat!
Aber es gibt einen kleinen Schönheitsfehler. Joel Wicki war nach den Buchstaben des Gesetzes nicht auf dem Rücken. Nicht besiegt. Der Gang hätte weitergehen müssen. Der König verdankt seine Krönung einem – Fehlentscheid.
Gäbe es kein Farbfernsehen, gäbe es keine Zweifel. Weil alles so blitzschnell geht. Weil es fast zu schön ist, um wahr zu sein. Weil niemand protestiert. Weil niemand reklamiert.
Aber unser staatstragendes Fernsehen, das so grossen Anteil daran hat, dass Schwingen so populär geworden ist, das mit wunderbaren Bildern, mit einer TV-Produktion, die nur höchstes Lob, die das Prädikat «Weltklasse» verdient, liefert uns nun auch den Beweis, dass Joel Wicki nach den Buchstaben der Schwinger-Gesetze nicht besiegt worden ist.
Wir sehen auf den TV-Bildern, wie sich Joel Wicki schon in Christian Stuckis «Schraubstock» blitzschnell wendet, abdreht und auf eine Schulter fällt – nicht auf beide, wie die Gesetze des Schwingens es befehlen.
Im technischen Regulativ des eidgenössischen Schwingverbandes heisst es:
Die Bilder sind eindeutig. Die Sägemehlspuren auf dem Hemd von Joel Wicki auch. Ein Skandal? Nein.
Wir können die TV-Bilder immer und immer und immer wieder ansehen und unser Urteil bilden. Aber die drei Kampfrichter sehen diese Bilder nicht. Sie müssen sofort entscheiden. In Echtzeit geht alles so blitzschnell und verschwindet Joel Wicki unter dem mächtigen Titanen so eindeutig, dass der Betrachter zum Urteil kommt: Resultat! Mit blossem Auge ist unmöglich zu erkennen, dass es Joel Wicki, gleich einem Wunder, noch gelungen ist, sich abzudrehen. Ja, der Gedanke, dass sich Joel Wicki da noch gerettet hat, ist für den Betrachter so absurd wie der Gedanke, Christian Stucki könne übers Wasser gehen.
Nach menschlichem Wahrnehmungsvermögen, nach menschlichem Ermessen, nach bestem Wissen und Gewissen gibt es da draussen auf dem Platz für die drei Kampfrichter in diesem Augenblick nur einen Entscheid: Resultat! Joel Wicki ist regulär besiegt worden!
Was uns zum ewigen Thema führt: Video-Beweis im Schwingen?
Technisch und theoretisch bei einem Eidgenössischen sehr teuer. Aber möglich. Das Fernsehen müsste dann jeden Gang mit mehreren Kameras aufzeichnen, um jede Situation erfassen zu können. Aber der Video-Beweis wäre im Schwingen unsinnig.
Sport ist nie perfekt. Fehlentscheide gehören zum Sport. Was wäre der Sport, wenn wir nicht stundenlang über einen «Fall» diskutieren könnten? Der Wahn zur Kontrolle, zur Perfektion ist drauf und dran, uns mit der «Videotie» einen schönen Teil des Charmes, des Reizes des Sportes zu nehmen.
Ein «Eidgenössisches», bei dem immer und immer wieder Gänge im Video nachgeprüft werden müssen? Titanen, die im Sägemehl warten müssen, bis die Videorichter zu ihrem Urteil kommen? Undenkbar. Dazu kommt noch etwas: Im Falle dieses Schlussganges sind die Bilder klar. Aber das wäre nicht in jedem Fall so. Oft ist selbst auf besten TV-Bildern nicht zweifelsfrei festzustellen, ob es ein Resultat war oder nicht. Kommt dazu: Dann müsste, wenn schon, auch noch nachgeprüft werden, ob der Sieger korrekt Griff gefasst hatte. Darüber lässt sich nämlich auch noch vortrefflich streiten.
Im Fussball oder Hockey wäre nun das Geschrei gross. Im Schwingen aber wird ein solcher Entscheid akzeptiert. Das gehört zur Kultur dieser wunderbaren Sportart.
Aber dieser Schlussgang wird natürlich noch jahrelang unter den Kennerinnen und Kennern diskutiert werden. Auch das gehört zur Kultur dieser wunderbaren Sportart. Der neue König hat dafür gesorgt, dass wir Untertanen noch stundenlang über seine Thronbesteigung diskutieren, ja polemisieren können.
Christian Stucki ist ein grosser König. Punkt. Der wahre König. Punkt. Wäre das Resultat nicht gegeben worden, dann hätte er Joel Wicki halt nach dem nächsten, übernächsten, überüber- oder überüberübernächsten Zusammengreifen gebodigt. Punkt. Auf jeden Fall vor dem Ablauf der Kampfdauer (Gangdauer) von 16 Minuten. Punkt. Das sagt der Chronist aus dem Bernbiet. Punkt.
Das war doch gegeben! Von der rechten Seite her, bis zur Mitte beider Schulterblätter. Also war der Sieg völlig regulär und der ganze Artikel umsonst.
Was mich an den Bildern beeindruckt ist, wie man mit dem Kopf zwei zentnerschwere Männer auffangen kann... wider alle Reflexe... crazy, ich mach mal lieber bizli Yoga derweil...