Seit Mitte März ruht der Spielbetrieb im Profitennis. Gleichwohl schafft es der Sport, sich auch während der Corona-Pandemie fast täglich in den Schlagzeilen zu halten. Nur selten sind die Nachrichten positiv. Nach vier Monaten bleibt die Erkenntnis: kein globaler Sport hat in diesem Frühling ein derart jämmerliches Bild abgegeben wie das Tennis.
Jüngstes Beispiel ist ein Turnier in Atlanta im US-Bundesstaat Georgia. Mitten in einem der Epizentren der Pandemie. Am 2. Juli wurden dort 3500 Neuansteckungen innerhalb von 24 Stunden gezählt. In nur zwei Tagen hat sich diese Zahl verdoppelt. Georgia grenzt an Florida, wo sich Anfang des Monats über 10'000 Menschen täglich ansteckten. Das ist deshalb problematisch, weil fast jeder fünfte Bewohner Floridas über 65-jährig ist und damit zur Risikogruppe zählt. In absoluten Zahlen sind das 3,3 Millionen Menschen.
Von dort reiste der Amerikaner Frances Tiafoe bereits sichtbar krank nach Georgia, wo er – oh Wunder! – dann positiv getestet wurde. Trotzdem wurde der All-American Team Cup mit Publikum fortgesetzt, als wäre nichts passiert. Mitinitiant John Isner, einst die Nummer 8 der Welt und 2018 Halbfinalist in Wimbledon, beschimpft Kritiker der Veranstaltung in den sozialen Medien als «Corona-Brüder», die im Keller bleiben können, «während ich mich dafür entscheide, mein Leben zu leben und den Sport, den ich liebe in einer sicheren Form auszuüben und zu bewerben.»
You coronabros can stay in your basement all you want. I choose to live my life and play/promote the sport I love in a safe manner.
— John Isner (@JohnIsner) July 1, 2020
Heisst übersetzt: Mein Leben, meine Privilegien und meine Bedürfnisse sind wichtiger als der Schutz der Vulnerablen. Es ist eine Ignoranz, die nun wirklich kaum auszuhalten ist. Und nur allzu gerne würde man diesen Filzballartisten zurufen: «Reisst euch endlich zusammen, ihr Egoisten!»
Denn leider ist es nicht das einzige Beispiel für das bedenkliche Sittenbild, welches das Tennis abgibt. Der Kroate Marin Cilic zum Beispiel, der bisher nicht ganz unbescheidene 28 Millionen Dollar Preisgeld erspielt hat, soll eine Erhöhung der Preisgelder bei den US Open im September in New York gefordert haben, weil den Spielern durch die Sicherheitsmassnahmen Nachteile entstünden.
Und das, obwohl das Grand-Slam-Turnier ohne Zuschauer ausgetragen wird, und dem Veranstalter, dem amerikanischen Tennisverband USTA, dadurch ein Grossteil der Einnahmen wegbrechen, und der deshalb weit über 120 Angestellte entlassen musste, um die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie abzufedern. Zur Erinnerung: Wer 2019 bei den US Open in der ersten Runde verlor, erhielt 93'000 Dollar.
Auch im Fall von Alexander Zverev fragt man sich, wie undurchlässig die Blase ist, in der sich diese Athleten bewegen. Erst spielte der 23-jährige Deutsche bei der von Novak Djokovic initiierten Adria-Tour, die in vier Balkanstaaten hätte stattfinden sollen, ehe diese wegen zahlreicher Ansteckungen mit dem Coronavirus abgebrochen werden musste, woraufhin Zverev, der sich im Gegensatz zu Djokovic und dessen Frau nicht angesteckt hatte, vollmundig und reumütig ankündigte, sich zu isolieren. Was er natürlich nicht tat, wie Bilder aus einem exklusiven Privatclub an der Côte d’Azur zeigten, wo er sich sechs Tage später mit einer Hundertschaft Gästen und leicht bekleideten Damen vergnügte.
Das Tennis war schon immer auch eine Welt der Interessenkonflikte. Bestes Beispiel ist der Spanier Feliciano Lopez. Der 37-Jährige ist zwar noch Spieler, aber auch bereits Turnierdirektor in Madrid. Man könnte meinen, in zwei Jahrzehnten als Sportler habe er ein Verständnis für die Mechanismen des Profisports entwickelt.
Das dem aber offenbar nicht so ist, offenbarte Lopez, als er einen Journalisten der «New York Times» zurechtstutzen wollte, der kritisiert hatte, dass der Spartensender «Tennis-Channel» den All-American Team Cup übertrug. Er solle endlich aufhören, «Bullshit» zu schreiben und den Sport, für den er arbeite, zu unterstützen. Als wären Journalisten unkritische PR-Gehilfen.
Das Beispiel von Alexander Zverev zeigt exemplarisch, woran das Tennis krankt: einer beissenden Selbstherrlichkeit und grenzenlosem Egoismus. Was auf dem Platz als Zeichen der Stärke gilt, ist im richtigen Leben ein Graus. Weil diesen Athleten ein Korrektiv fehlt, das sie zur Räson bringt. Weil sie, ausser einem öffentlichen Sturm der Entrüstung, der dieser Tage ebenso schnell vorbei geht, wie er aufgezogen ist, kaum Konsequenzen zu befürchten haben.
Sie haben keinen Arbeitgeber, der sie zurechtweist, wenn das nötig ist. Oder gar entlässt wie im Fall des Fussballers Salomon Kalou, den der deutsche Fussball-Bundesligist Hertha BSC Berlin entlassen hatte, nachdem er gegen die Corona-Regeln verstossen hatte.
Aber weshalb sollte man sich auch wundern? Mit Novak Djokovic wollte der beste Tennisspieler der Gegenwart, ja vielleicht der Geschichte, die Welt glauben lassen, auf dem Balkan sei das Virus kein Problem. Es sei schwer, den Menschen zu erklären, dass die Situation in seiner Heimat nicht mit jener im Rest Europas oder der USA zu vergleichen sei. Als wäre der Balkan eine Insel der Glückseligkeit, um die das Virus einen grossen Bogen geht.
Selbst nach dem überfällig gewordenen Abbruch der Adria-Tour folgte von Djokovic nur ein halbherziges Schuldeingeständnis. Im Gegenteil: Serbiens Premierministerin Ana Brnabic nahm Djokovic sogar noch öffentlich Schutz und sprach ihn von jeglicher Schuld frei.
Wie es auch gehen könnte, zeigen vor allem die Frauen, die sich vornehm zurückhalten. Und selbstverständlich verhalten sich auch nicht alle Tennis spielenden Männer dermassen rücksichtslos und selbstherrlich.
Roger Federer ist zwar rekonvaleszent und kehrt frühestens im Januar 2021 bei den Australian Open in Melbourne zurück, sagte aber bereits vor seinem zweiten Eingriff am Knie, er könne sich nicht vorstellen, dass in diesem Jahr noch Tennis gespielt werde. Und Rafael Nadal kritisierte den Plan der French Open, die er bekanntlich nicht weniger als zwölf Mal gewonnen hat, Ende August in Paris vor Publikum spielen zu lassen und liess offen, ob er bei den US Open in New York antreten wird – wie ursprünglich auch Novak Djokovic. Ob Nadal seinen Worten Taten folgen lässt?