Nicht nur politisch, auch sportlich wurden die Frauen in der Schweiz lange stiefmütterlich behandelt, ja sogar belächelt. 1972 zum Beispiel wollte man vor den Olympischen Spielen in Sapporo das Ski-Nationalteam der Frauen auflösen. «Wir waren angeblich zu wenig gut», erinnert sich Marie-Theres Nadig, die alle nur als «Maite» kennen. Und dann? Gewann die Flumserin als 17-Jährige für die Schweiz Gold in der Abfahrt und im Riesenslalom.
Nadig ist eine der 30 prägendsten Schweizer Sportlerinnen der vergangenen 50 Jahre, denen das Buch «Frauenpower» gewidmet ist. Zwar dominieren die Skifahrerinnen, die mit Vreni Schneider, Maria Walliser, Dominique Gisin, Michela Figini, Erika Reymond-Hess und Nadig vertreten sind, und die Leichtathletinnen mit Anita Weyermann, Lea Sprunger, Meta Antenen und Mujinga Kambundji, aber im 200 Seiten starken Werk finden sich auch Geschichten, Kurzporträts und Interviews mit den Turnerinnen Ariella Kaeslin und Giulia Steingruber, Tennisspielerin Martina Hingis, Ruderin Jeannine Gmelin, der früheren Eishockey-Torfrau Florence Schelling, den Triathletinnen Nicola Spirig und Daniela Ryf oder Fussballerin Lara Dickenmann.
Das Autorenteam um Marco Keller, Monica Schneider und Peter M. Birrer begleitet die Karrieren der Frauen seit Jahrzehnten journalistisch. Das Vertrauen in sie ist spürbar und ermöglichte es dem Trio, auch dunkle Kapitel anzusprechen und feinfühlig nachzuerzählen. Wie Schwimmerin Flavia Rigamonti von ihren Trainern drangsaliert wurde, wie Ariella Kaeslin in Magglingen zur besten Schweizer Turnerin wurde, aber auch, wie sie 13-jährig in ein Klima der Erniedrigung geriet, von ihrem Trainer als «fette Kuh» bezeichnet und gebrochen wurde. Oder wie die Triathletin Natascha Badmann nach einem Sturz mit dem Fahrrad so schwer verletzt war, dass sie sich nicht einmal mehr ihre Tränen selber abwischen konnte.
«Frauenpower», zu dem Bundesrätin und Sportministerin Viola Amherd das Vorwort beisteuerte, überzeugt mit allerlei Anekdotischem. Dass die Eiskunstläuferin Denise Biellmann als Jugendliche heimlich rauchte. Dass Leichtathletin Anita Weyermann noch heute, 24 Jahre nach ihrem WM-Bronze-Lauf in Athen, auf ihren Ausdruck «Gring abe u vou seckle» angesprochen wird. Wie Alpinistin Evelyne Binsack, als Jugendliche magersüchtig, auf einer Expedition an den Südpol dem Tod ins Auge schaute. Wie sich Vreni Schneider aus Nervosität vor einem Rennen übergeben musste. Oder wie Reiterin Christine Stückelberger als 19-Jährige mit zwei Pferden in einem alten Bahnwagen ohne Heizung und Toilette zwei Tage und zwei Nächte nach Wien reiste, wo sie sich der Spanischen Hofreitschule anschloss.
Es sind intime Einblicke in das Leben der Athletinnen, die mit Pioniergeist, Durchhaltevermögen, Ausstrahlung und einem Vermächtnis, das über den Sport hinausgeht, punkten, wie die Autoren und die Autorin des Buchs schreiben.
Nur bedingt gerecht wird das Buch dem Anspruch, aufzuzeigen, mit welchen Hindernissen sich Frauen heute in der männlich geprägten Welt des Sports konfrontiert sehen. Das mag auch daran liegen, dass es eine Sammlung von Athletinnen ist, die dem Frauensport nicht durch Rebellion zu Akzeptanz verhalfen und sich weniger über ihr Geschlecht definieren als über ihre Erfolge. Porträtiert sind Weltmeisterinnen, Olympiasiegerinnen, Europameisterinnen – unbesungene Heldinnen sucht man vergebens.
Ein gemeinsamer Nenner dieser Lebensgeschichten ist der Mut der Frauen, auch unkonventionelle Wege zu gehen, die oft in jungem Alter ins Ausland führten. Florence Schelling spielte in den USA und in Schweden. Die beiden Leichtathletinnen Lea Sprunger und Mujinga Kambundji trainierten in den Niederlanden und Deutschland. Flavia Rigamonti ging in die USA, Fussballerin Lara Dickenmann nach Frankreich, und Selina Gasparin ging als 19-jährige Langläuferin nach Norwegen und wechselte erst später zum Biathlon, wo sie 2014 bei den Olympischen Spielen in Sotschi Silber gewann. Die Geschichten erstrecken sich über Epochen und Sportarten, die Vergleiche und Entwicklungen nur schwer sichtbar machen lassen.
Ein kleiner Schönheitsfehler ist, dass die Autoren und die Autorin von der Zeit überholt worden sind. Ariella Kaeslin erzählt in «Frauenpower», dass sie auf der Suche nach «meinem Plätzchen in der Gesellschaft» ist. Vielleicht hat sie dieses nun gefunden, nachdem sie kürzlich erzählt hat, dass sie eine Frau liebt. Daniela Ryf erzählt im Buch viel über ihre Arbeit mit Trainer Brett Sutton, von dem sie sich mittlerweile getrennt hat. Und Florence Schelling, die beim SC Bern als weltweit erste Frau im Eishockey das Amt der Sportchefin bekleidete, wurde letzte Woche freigestellt. «Mein Stuhl ist nicht festgenagelt, ich habe keine Jobgarantie. Für mich gelten nicht andere Regeln als für meine Kollegen», endet das ihr gewidmete Kapitel.
Das Buch «Frauenpower» ist vor allem eines: ein eindrückliches Zeugnis dafür, wie viele grosse Athletinnen dieses kleine Land in vielen Sportarten und über mehrere Dekaden hinweg hervorgebracht hat: Sie holten Olympiamedaillen, wurden Weltmeisterinnen, gewannen im Weltcup und schrieben als Pionierinnen Schweizer Sportgeschichte.
Dass sie Frauen sind, ist hoffentlich schon bald nur noch eine Randnotiz.
Egal ob Frau oder Mann.
Viele wissen nicht, was auf dem Weg nach ganz oben alles für Hindernisse lauern.
Deshalb, alle die das geschafft haben, haben Riesenrespekt verdient, denn die Meisten schaffen es nicht.