Ein Eintrag ins Geschichtsbuch hat sich Tom Lüthi bereits gesichert: der erste Sturz der MotoGP-Saison 2018 geht auf sein Konto. In der dritten Runde des ersten freien Trainings der neuen Saison rutschte ihm gestern Mittag das Vorderrad weg. Funken sprühen. Aber alles geht glimpflich aus. «Es ist kein Problem», beruhigt er hinterher. «Das Vorderrad ist ohne Warnung einfach weggerutscht.» Im zweiten Training holt er dann am frühen Abend den 19. Rang. Und überrascht alle. Bei den letzten Tests war er noch 24. und letzter gewesen.
Tom Lüthi sagt nach seinem ersten Tag der MotoGP-Saison 2018, er sei nicht zufrieden mit dem Abstand zur Spitze. «Aber wir haben unsere Arbeit so fortgesetzt wie wir uns das vorgenommen haben und weitere Fortschritte gemacht.»
Rang 19 also. Noch einmal ganz von vorne anfangen. Warum eigentlich noch einmal Lehrling? Warum nicht weiterhin ein Star und Siegfahrer in der Moto2-WM? Lockt das Prestige? Ja und nein. Nein, weil ein echter Champion immer nach der schwierigsten Herausforderung strebt. Und die ist auf zwei Rädern nun mal die MotoGP-Klasse. Ja, ein wenig geht es auch um Prestige. Nur wer in der «Königsklasse» fährt, ist ein «ganzer Kerl» und geniesst Aufmerksamkeiten und Privilegien, die es in den anderen beiden Klassen (Moto3, Moto2) nicht gibt. Denn die Höllenmaschinen in der «Königsklasse» sind die stärksten. Mit über 260 PS. Mindestens 100 PS mehr als die Moto2-Bikes. Und das ist der Grund, warum Tom Lüthi nach 12 Jahren, 236 Rennen und mehr als 20 000 Rennkilometern wieder ein Lehrling geworden ist.
Weil die Motorenkräfte so gewaltig sind, werden sie durch Elektronik gezähmt. Deshalb ist in einem MotoGP-Team heute der Programmierer wichtiger geworden als der Mechaniker. Nicht mehr die Virtuosen mit dem Schraubenschlüssel sind die Könige in der Box. Sondern Nerds mit randlosen Brillen, die stundenlang am Laptop hängen und den Chip programmieren, der ins Bike geschoben wird und die Kraftentfaltung, die Motorenbremse und vieles andere steuert.
Tom Lüthi findet sich also in einer neuen Welt wieder. Wenn der Fahrer am Gasgriff dreht, sorgt die Elektronik dafür, dass die Kraft dosiert entfaltet wird. Das direkte, ursprüngliche, raue Gasgeben wie in allen anderen Klassen gibt es nicht mehr.
Der Umstieg von einem Moto2-Bike auf die MotoGP-Hight- Tech-Monster ist ungefähr so wie wenn jemand bisher immer von Hand geschrieben hat und nun auf einmal auf einen Laptop umsteigen muss. Oder wie ein Sportflieger, der sich im Cockpit eines Jumbos wiederfindet. Das fällt selbst dem Helikopter-Piloten Tom Lüthi schwer.
Punkte gibt es ab Platz 15. Sein Freund und Manager Daniel M. Epp formuliert das Saisonziel so: «Einen Rang zu nennen, geht nicht. Das Ziel für einen Neuling ist es, auch 2019 noch in der MotoGP-Klasse zu sein.»
Je jünger der Pilot, desto einfacher der Umstieg auf diese High-Tech-Monster. Tom Lüthi wird am 6. September bereits 32. Er ist in diesem Geschäft ein Veteran. Marc Marquez stieg mit 20 um, Dani Pedrosa und Valentino Rossi mit 21. Und auch die beiden anderen Neulinge, die jetzt wie Tom Lüthi mit der gleichen Honda neu in die «Köngisklasse» einsteigen, sind wesentlich jünger. Takaaki Nakagmi ist 26, Franco Morbidelli sogar erst 24.
Mehr als zehn Jahre lang ist Tom Lüthi um Siege und Titel gefahren. Das ist nicht mehr möglich. Vielmehr muss er jetzt lernen, lernen, lernen. Und hat gestern, am ersten Tag der neuen Saison mit seinen Fortschritten alle überrascht. Der Lehrling ist auch ein Musterschüler. Er kann den Kampf mit dem MotoGP-High- Tech-Monster gewinnen.