Mögen die olympischen Gralshüter hin und wieder mahnen, das Medaillenzählen sei unwichtig, wichtiger als zu siegen sei, dabei zu sein: Die olympische Währung ist Gold und ein bisschen Kleingeld in Silber und Bronze.
Alles, was zählt, ist der Medaillenspiegel. Eine populäre Weltrangliste der Länder und nie versiegende Quelle des Patriotismus.
Einmal mehr können wir an diesem Medaillenspiegel ablesen, dass die Schweiz eine der aussergewöhnlichsten Sportnationen der Welt ist. Kaum ein anderes Land ist, gemessen an Grösse und Bevölkerungszahl, seit so langer Zeit – seit gut 100 Jahren – in so vielen verschiedenen Sportarten so erfolgreich wie die Schweiz.
In der Vergangenheit hat es verschiedenste Erklärungen gegeben. Unter anderem den geografischen Vorteil für Triumphe im Wintersport und vorübergehend die Unversehrtheit der Schweiz im Zweiten Weltkrieg mit dem ungestörten Sportbetrieb.
Das ist richtig. Erklärt aber längst nicht mehr, warum wir uns erst recht heute, in einer globalisierten Welt durchsetzen. In einer Welt, in der so viele Länder so viel Geld in den Sport investieren wie nie.
Die Sportnation Schweiz ist ein Hybrid-Modell. Es gibt kein Erfolgsgeheimnis. Kein Geheimrezept. Vielmehr sind sehr viele unterschiedliche Faktoren sind für den erstaunlichen Erfolg unseres Sportes verantwortlich: unser Bildungssystem, unsere Mentalität, die Sportmedizin, die technischen Wissenschaften, die Infrastruktur, die Politik, eine starke Wirtschaft und die Vorteile, ein kleines Land zu sein.
Das Bildungssystem spielt dabei eine nicht zu unterschätzende, oft vergessene Rolle. Unter den Schweizer Olympia-Helden sind die «Büezer» prominent vertreten. Will heissen: Sportlerinnen und Sportler aus sogenannt einfachen Verhältnissen, die nicht mit goldenen Löffeln im Mund auf die Welt gekommen sind.
Reiche Eltern, also die Herkunft aus der Elite, sind in der Schweiz im Gegensatz zu sehr vielen anderen Ländern keine Voraussetzung für eine Sportlerkarriere. Wer bei uns talentiert ist, dem steht der Weg nach oben offen. Im Sport und im Beruf.
Diese Durchlässigkeit der Gesellschaft, die in vielen Ländern aufgrund der sozialen Gegensätze immer mehr verloren geht, ist ein wichtiges Erfolgsgeheimnis. Talentierte Kinder haben bei uns jederzeit die Möglichkeit, einem Sportverein beizutreten und eine sportliche Karriere zu machen. Unter diesen Voraussetzungen gehen in der Schweiz verhältnismässig wenige Sporttalente verloren.
Grosse Nationen – typisch dafür sind etwa die Amerikaner – werden aufgrund ihres riesigen Potenzials dazu verführt, auf das darwinistische Prinzip zu setzen: Der Stärkste überlebt. Dabei gehen Hunderte von Talenten verloren. Wir aber tragen Sorge zu den Sporttalenten. Bei uns gibt es im Sport eine zweite, dritte und auch vierte Chance.
Das sportliche Potenzial eines Landes hängt also nicht nur von der Zahl seiner Einwohner ab. Wenn das so wäre, dann hätten wir gar keine Chance in der globalen Welt des Sportes. Viel wichtiger ist, was wir aus unserem Potenzial machen. Ob es gelingt, die Talente zu erkennen und wie mit diesen Talenten umgegangen wird.
Dass wir ein kleines Land sind, muss kein Nachteil sein. Schweizer Sportlerinnen und Sportler haben Zugang zur weltweit besten Sportmedizin und müssen dafür nicht hunderte von Kilometern reisen wie in anderen Ländern. Und sie müssen nicht ihr vertrautes soziales Umfeld um der Karriere willen zu früh verlassen.
Diese Sportmedizin spielt eine sehr wichtige Rolle und wird durch einen ganz besonderen Umstand erst recht dynamisiert: In keinem anderen Land der Welt sind die Sportlerinnen und Sportler so intensiven Dopingkontrollen ausgesetzt. Oft wird vergessen und zu wenig gewürdigt, dass unser Sport bis heute weitgehend von grossen Dopingskandalen verschont geblieben ist.
Der Schweizer Sport arbeitet seit jeher erfolgreich mit Spezialisten aus allen Bereichen zusammen. Bereits 1972 in Sapporo liess der damalige Skiverbands-Direktor und spätere Bundesrat Adolf Ogi ein Jahr vor den Spielen Schneetemperaturen und Schneezusammensetzung wissenschaftlich analysieren. Der damals verfasste, 60 Seiten umfassende wissenschaftliche Bericht ist als «Geheimdossier» legendär geworden. Seither profitiert unser Sport immer und immer wieder von der Zusammenarbeit mit der eidgenössischen Wissenschaft.
Unser Sport hat längst einen goldenen Mittelweg zwischen einheimischem Schaffen und ausländischen Fachkräften gefunden: Unser Sport lernte und lernt heute noch viel von ausländischen Spezialisten. Aber wir haben nie fremde Lehren blind übernommen.
Der Schweizer Sport ist berühmt dafür, die Erkenntnisse von internationalen Spezialisten auf unsere Verhältnisse zu übertragen und eine eigene, starke Kultur aufzubauen. Unser Sport ist international sehr gut vernetzt. Heute wirken so viele Schweizer Trainer im Ausland, wie ausländische Trainer im Schweizer Sport tätig sind.
Da und dort wird gelegentlich mit dem Hinweis auf Nordamerikaner oder Deutschland das Fehlen einer «Gewinner-Mentalität» moniert. Dabei haben wir eine gesunde, weit unterschätzte «Gewinner-Mentalität». Auch in unserer Gesellschaft entwickelt sich eine gesunde Form des Patriotismus und des Selbstvertrauens.
Unsere Sportstars haben durchwegs eine im Vergleich zu ihren ausländischen Konkurrenten sehr gute Schulbildung. Sie haben ein starkes Selbstbewusstsein. Nicht ein so lärmiges wie die Amerikaner oder die Deutschen, die ihren Patriotismus gelegentlich wie ein Plakat vor sich hertragen. Sondern ein leises, in sich selbst ruhendes: Der Stolz, Schweizer zu sein, das Bewusstsein, dass wir gegen jeden in der Welt eine Chance haben.
Unsere olympischen Helden benötigen Swiss Olympic als Dienstleister. Dieses Politbüro unseres Sports vertritt alle Sportverbände und koordiniert ein weit verzweigtes und vorbildliches Fördersystem. Inzwischen spielt auch die Armee eine wichtige Rolle: Es ist möglich, die Dienstpflicht als Spitzensportler in Magglingen als Sport-Soldatin oder Soldat zu leisten.
Die Sportlerinnen und Sportler sind aber wirtschaftlich nicht mehr oder nur teilweise von unserer obersten Sportbehörde abhängig. Sie profitieren neben privatwirtschaftlicher Förderung aus einer starken Wirtschaft (Sponsoring) von einer guten, auch durch staatliche und halbstaatliche Mittel (wie SportToto) finanzierten Infrastruktur und haben die Freiräume für die individuelle Entwicklung. Zudem hat der Betriebsökonom und ehemalige Spitzensportler Mike Kurt (Kanu) mit «I believe in you» die weltweit erfolgreichste Plattform für Crowdfunding im Sport aufgebaut.
Die Verbände (die im Sport eine ähnliche Rolle haben wie der Staat im richtigen Leben) unterstützen die Athleten. Aber sie bevormunden und gängeln sie nicht, und wenn es hin und wieder zu Auseinandersetzungen zwischen Verbandsfunktionären und Sportlern kommt, so zeigt dies nur die Dynamik unseres Sportes.
Im Grunde funktioniert der Schweizer Sport ganz ähnlich wie die Schweizer Wirtschaft, die sich aus einem kleinen Land heraus gegen eine globale Konkurrenz behauptet und dabei so wenig ohne den Staat, die Verbände und die Politik auskommt wie der Sport.
Wie kann der Schweizer Sport die Erfolge von Peking 2022 umsetzen? In erster Linie beschert Peking 2022 dem Sport einen enormen Prestigegewinn. Die Erfolge sind sehr wichtig für die gesellschaftliche Akzeptanz des Sportes. Die Qualitäten unseres Sportes werden wieder einmal erkannt und gepriesen und gerühmt. Die Politikerinnen und Politiker eilen herbei, wenn die Helden von Peking gefeiert werden.
Schweizer Doppelschlag in der Frauen-Kombi an den @Olympics in @Beijing2022! Herzliche Gratulation @michellegisin zur Goldmedaille und @WendyHoldener zur Silbermedaille. Bravo!🥇🥈💪👏🎉
— Viola Amherd (@Violapamherd) February 17, 2022
Es wird nach Peking in einigen Teilbereichen neue Anstrengungen geben. Beispielsweise sagt Raëto Raffainer, der beim SC Bern für den Sport zuständig ist, es sei denkbar, dass der SCB in Zukunft eine Frauen-Mannschaft unterhalten wird.
Sein Vorhaben, inspiriert durch die Olympische Halbfinal-Qualifikation der Frauen wird spätestens dann wieder in der Schublade verschwinden, wenn sich herausstellen wird, dass eine Frauenabteilung fast so viel kostet wie der Jahreslohn eines Viertlinienspielers.
Immerhin wird es auch dank Peking 2022 da und dort wird leichter fallen, in der Politik die Erhaltung oder gar den Ausbau einer sportlichen Infrastruktur durchzubringen. Die sportliche Schönwetterlage hilft auch bei der Pflege der Sponsoren und der Suche neuer Geldgeber.
Die Wirkung der Olympischen Erfolge sollten wir allerdings nicht überschätzen. Peking 2022 wird keine Revolution auslösen. Das ist auch nicht nötig. Unser Sport braucht keine Revolution. Er funktioniert auch ohne.