Nesslau im Toggenburg. Die Königsstrasse. Was sonst? Hier wohnt Jörg Abderhalden, der erfolgreichste und wohl auch streitbarste Schwinger, den die Schweiz je gesehen hat. Aber die Probleme des Alltags gehen auch an einem König nicht spurlos vorbei. Während seine Frau Andrea, die für die FDP im St.Galler Kantonsrat politisiert, Kaffee und Wasser offeriert, hadert der dreifache Schwingerkönig: «Es ist bitter. Ich muss in unserer Holzmanufaktur sogar Aufträge ablehnen, weil ich kein Personal finde. Es gibt nicht mal schlechte Leute, die ich einstellen könnte.»
Wo wäre das Schwingen heute, wenn es den fortschrittlichen Jörg Abderhalden nie gegeben hätte?
Jörg Abderhalden: Es wäre ähnlich, wie jetzt. Es hätte einfach ein anderer …
…den Winkelried spielen müssen?
Ja. Dadurch, dass ich dreimal König wurde, hatte mein Wort mehr Gewicht. So konnte ich doch einiges bewirken in Sachen Vermarktung.
Trotzdem haben Sie ein Vermächtnis hinterlassen.
Als ich meinen Trainingsaufwand erhöht habe, war es mein Ziel, etwas Geld zu verdienen. So kam es zum Sponsoring. Mein Traum war stets, Profi zu sein. Heute bin ich froh, dass ich das Arbeitspensum nicht ganz runtergefahren habe. Denn die Rückkehr nach der aktiven Karriere ins Berufsleben ist mir so einfacher gefallen. Aber als junger Mann wollte ich nur Sport treiben. Und wenn du damit noch Geld verdienst, was gibt es Schöneres?
Sie waren der erste Schwinger, der sich gegen das Werbeverbot aufgelehnt, dieses sogar missachtet hat.
Ja. Und somit verantwortlich dafür, dass im Schwingverband eine Werbekommission geschaffen wurde. Aber ich war nicht allein.
1999 erhielten Sie einen scharfen Verweis, weil Sie für ein Foto in einem Magazin vor einem Auto posierten.
Ich habe nach meinem ersten Königstitel ein Auto von einer Garage aus dem Dorf gesponsert bekommen. Dass ich damit gegen das Werbereglement verstosse, war mir damals gar nicht bewusst. Ich war 19. Dachte: Hoppla, hätte ich das nicht machen dürfen? Aber ich habe gelernt, damit umzugehen, die Grenzen auszuloten und auch mal zu verschieben, damit die Regeln etwas aufgeweicht werden.
Die sogenannte «Lex Abderhalden», also die 10 Prozent Abgabe auf alle Einnahmen aus dem Sponsoring an den Verband, gilt bis heute. Ist das überhaupt noch zeitgemäss?
Nein. Sie war nie zeitgemäss. Es gibt viele Firmen, die einen Athleten und erst danach einzelne Schwingfeste finanziell unterstützen. So gesehen profitieren die Verbände und Schwingfeste durch das individuelle Sponsoring. Was mich unfassbar genervt hat: Selbst nach dem Rücktritt musste ich drei Jahre lang noch 10 Prozent meiner Werbeeinnahmen abtreten. Aber es ist wie überall im Leben: Wenn es einen nicht mehr betrifft, kämpft man auch nicht mehr wie ein Löwe.
Früher aber kämpften Sie noch wie ein Löwe. Was auch dazu geführt hat, dass die besten Schwinger heute vom Sport allein leben könnten. Würden Sie das Profitum begrüssen?
Ich hätte es mir als Schwinger gewünscht. Ich finde es aber auch nicht tragisch, wenn man noch 50 Prozent arbeitet. Ein Kilian Wenger (König von 2010, Anm.d.Red.) wäre wohl zehn Jahre lang problemlos durchgekommen. Aber er hätte nicht auf die Seite gebracht, was er jetzt auf der Seite hat, weil er weiter einem Job nachgegangen ist.
Heute kann man aus dem Königstitel bedeutend mehr rausholen als zu Ihrer Zeit.
Absolut. Mein erster Titel 1998 hat mir nicht geschadet, aber reich geworden bin ich bei weitem nicht. Erst etwas später konnte ich es mir dank des Sponsorings erlauben, mein Arbeitspensum runterzuschrauben. Ich hatte Familie, ein Geschäft, ein Haus gebaut und wollte auch Zeit mit den Kindern verbringen. Das war meine Motivation, um Sponsoring zu machen. Dank des Sponsorings hatte ich meinen Büezerlohn auf sicher.
Man sagt: Heute würde ein Schwingerkönig etwas falsch machen, wenn er den Titel nicht in mindestens eine Million Franken ummünzt. Beneiden Sie die heutige Generation?
Nein.
Oder wären Sie gerne 20 Jahre jünger?
Vielleicht. Aber nicht wegen des Geldes (lacht). Rein sportlich wäre es spannend, mit dem Wissen, das ich mir angeeignet habe, nochmals 20 Jahre jünger zu sein.
Dann wären Sie ein noch besserer Schwinger?
Ich glaube schon.
Nach dem ersten Titel 1998 sagten Sie als 19-Jähriger: «Ich komme mir vor wie ein Indianer, der in die Zivilisation kommt.»
An das Zitat erinnere ich mich nicht mehr. Aber ich war ein Schreinerlehrling, der auf einem kleinen, idyllischen Bauernhof im Toggenburg aufgewachsen ist. Nicht in einem konservativen Elternhaus, aber doch bescheiden. Ich bin zu diesem Zeitpunkt noch nie in die Ferien geflogen. Und dann bist du plötzlich Schwingerkönig. Alle wollen etwas von dir. Du wirst zu den «Sports Awards» eingeladen. Du lernst viele wichtige und weniger wichtige Menschen kennen, bist ständig im Fernsehen. Du lernst eine Welt kennen, welche dir bis zu diesem Zeitpunkt völlig fremd war.
Einige verbrennen in dieser Glitzerwelt. Sie nicht. Gab es für Sie keine Gefahren?
Natürlich gab es die. Wenn du 19 bist und dir jeder sagt, du seist der Beste und der Schönste, ist die Versuchung schon da, den Worten zu glauben.
Aber Sie haben es nicht geglaubt?
Doch, teilweise schon. Es gab schon Phasen, in denen ich mich überschätzt habe. Das waren aber alles wertvolle Erfahrungen.
Ihre Dominanz war derart beeindruckend, dass irgendwann 50'000 Menschen in der Arena hofften, der Abderhalden möge auf dem Rücken liegen.
Das war mein Eindruck, als ich 2007 in Aarau im Schlussgang stand. Ich war schon zweimal König, mein Gegner Stefan Fausch noch nie. Man wähnt sich schon sehr einsam, wenn einen das Gefühl beschleicht, alle hätten den Plausch, wenn mich der Gegner bodigt. Vielleicht habe ich mir das nur eingebildet. Aber es ist wohl typisch schweizerisch. Die Schweizer helfen tendenziell dem Schwächeren. Erfolgreiche und selbstbewusste Menschen wirken bei uns schnell einmal suspekt. Vielleicht spielt auch Neid eine Rolle.
Trotzdem haben Sie gewonnen.
Stefan Fausch hat mir hinterher gesagt, dass auch er unglaublichen Druck verspürt habe. Es ist im Spitzensport doch fast überall so, dass rein körperlich alle etwa auf ähnlichem Niveau sind. Über Sieg oder Niederlage entscheidet meist der Kopf.
Und da waren Sie stärker als Ihre Gegner?
Ich denke schon. Man kann zwar Mentaltraining machen. Aber im Sägemehlring musst du allein kämpfen, da hilft dir kein Mentaltrainer. Ich habe darauf geachtet, dass ich mein Training und mein privates Umfeld optimiere, was mir mental enorm geholfen hat, solche Situationen wie 2007 zu überstehen. Und dann gibt es jene, die alles genau so machen wie ich es gemacht habe und trotzdem im entscheidenden Moment nicht erfolgreich sind. Das nennt man wohl fehlendes Sieger-Gen. Geni Hasler war vor mir zehn Jahre lang der beste Schwinger, wurde aber nie König.
Und nun Samuel Giger: Vor drei Jahren gescheitert, ist bei diesem Eidgenössischen alles andere als der Titel eine Enttäuschung für ihn.
Körperlich und technisch müssen wir nicht diskutieren. Da ist er der Beste. Aber die Frage ist, ob er seine Überlegenheit umsetzen kann. Wenn er es jetzt nicht schafft, wird der Druck in drei Jahren noch grösser sein.
Also ist es nur eine mentale Frage, ob Giger König wird?
Natürlich. Er ist der kompletteste Schwinger der letzten zwei Jahre. Aber beim Kilchberger im letzten Jahr hatte er riesiges Glück, dass er sich im ersten Rang klassierte.
Giger profitierte von einem Fehlentscheid gegen Samir Leuppi und kam nur so in den Schlussgang.
Ja, er hat diesen Fehlentscheid gebraucht, um den Kilchberger Schwinget zu gewinnen. Dieses Glück hast du vielleicht einmal im Leben.
Braucht es den Videobeweis, um solche Fehlentscheide zu verhindern?
Nein. Die Diskussion über den VAR wird ausschliesslich bei der Boulevardzeitung geführt. In der Schwingszene wird das Thema nicht diskutiert. Im Schwingen gleicht es sich meist aus.
Wie meinen Sie das?
Nehmen wir Christian Stucki. Er stellt beim letzten Eidgenössischen gegen Armon Orlik. Ein richtig schlechter Gang. Trotzdem erhält Stucki das Punktemaximum. Keiner weiss, wieso. Es war definitiv kein 9er-Gang. Vielleicht hat er diese 9 erhalten, weil er sich jahrelang vorbildlich benommen hat. Der Stucki hat sich nie über einen Kampfrichter oder eine Einteilung beschwert. Er hat nie ein Resultat nicht akzeptiert. Er hat nie jemandem «Schofseckel» ausgeteilt. Als Folge dieses guten Benehmens erhält er in Zug dieses Punktemaximum, was ihm hilft, den Schlussgang zu erreichen und das Fest zu gewinnen.
Das ist eine schöne Geschichte.
Ich finde, das gehört zum Schwingsport oder zu anderen Sportarten, in denen es Benotungen gibt. Ein Kunstturner, der jedes Mal einen «Lätsch» zieht und ein freches Mundwerk hat, wird nie eine bessere Note bekommen. Aber der, der sich jedes Mal freut und in die Kamera lacht, wenn die Bewertung da ist, wird tendenziell besser benotet. Davon bin ich überzeugt.
Im Schwingen ist es so, dass der Entscheid akzeptiert wird. Auch wenn er mal umstritten ist.
Genau. Und wenn du eben jedes Mal, wenn du dich ungerecht behandelt fühlst, dem Kampfrichter sagst: «Du hast keine Ahnung.» Oder: «Du bisch en Schofseckel.» – dann wird dieser nie zu deinen Gunsten handeln. Auch wenn man es nicht 1:1 messen kann, glaube ich doch, dass das Benehmen im Schwingen einen Einfluss hat.
Wie erklären Sie sich den Hype, der rund ums Schwingen herrscht?
Ich glaube, es sind die Werte, für die das Schwingen steht. Dass man miteinander ans Eidgenössische Schwingfest geht, eine Glasflasche mitnehmen kann oder ein Sackmesser und sich damit eine Wurst aufschneidet. Einfach gemeinsam ein schönes, friedliches Fest geniesst. Es sind diese Werte, die dem Schwingsport helfen, so populär zu sein.
Aber das war beim Schwingen schon immer so und erklärt nicht den Hype.
Stimmt. Schwingen ist sehr telegen. Und das Fernsehen hat sicher seinen Teil zum Hype beigetragen. Es hat erstmals 2004 in Luzern live übertragen. Das Eidgenössische an sich, das temporäre Stadion, ist ja seit Luzern immer dasselbe. Das Drumherum ist jedoch immer grösser geworden. Ausserdem fasziniert der Kampf Mann gegen Mann seit Menschengedenken.
Das Schwingen hatte lange ein Nischendasein. Wann fand der Wandel statt?
Als ich das erste Mal Schwingerkönig wurde, war ich 1998 zu den «Sports Awards» eingeladen. Sie spielten in der Liveübertragung einen Beitrag über das Schwingfest ab. Da sagte einer hinter mir: «Was machen denn die Schwinger hier?» So nach dem Motto: «Das hat ja mit Sport nichts zu tun und gehört nicht zu den ‹Sports Awards›.»
Was dachten Sie?
«Du bist ein Idiot.» Knapp neun Jahre später im Januar 2008 bin ich Schweizer des Jahres 2007 geworden. Die Wahrnehmung hat sich komplett verändert. Christian Stucki wurde nach Zug Sportler des Jahres. Das wäre in den 90er-Jahren unvorstellbar gewesen. Ich war damals um Platz sieben herum klassiert als Schwingerkönig. Ein Edelweisshemd, das heute jeder trägt, der ein Schwingfest besucht, das gab es in den 90er-Jahren nicht. Heute geht selbst ein Banker mit dem Edelweisshemd ans Schwingfest.
Stört es Sie, wenn Leute am Schwingfest sind, die keine Ahnung vom Sport haben?
Nein.
Mittlerweile gehen viele Tickets des Eidgenössischen an Sponsoren. Besteht da nicht die Gefahr, dass am Ende die echten Schwingfans leer ausgehen?
Solange der Verteiler so ist wie jetzt, nicht. 4000 Billette von den rund 50'000 gingen in den Verkauf. Und dann hat es rund 30'000 Tickets, die über die Schwingklubs verkauft werden. Die sind am richtigen Ort. Bleiben noch knapp 15'000 übrig für die Sponsoren. Das ist absolut in Ordnung so. Man kann schon sagen, wir fahren wieder auf 30'000 Zuschauer runter und haben dafür keine Sponsoren. Oder man kann noch weitergehen und sagen, das Militär dürfe die Tribünen nicht mehr aufbauen. Dann ist jedem klar, dass das Eidgenössische rote Zahlen schreiben wird. Ausser man verdoppelt die Ticketpreise.
Würde man das Eidgenössische statt alle drei jedes Jahr durchführen oder im Winter ein Hallen-Masters veranstalten, könnte man finanziell noch mehr rausholen.
Wenn man das Eidgenössische jedes Jahr durchführte, würde es seinen Reiz verlieren. Da bin ich zu 100 Prozent sicher. Jedes Jahr ein neuer Schwingerkönig, da hätte der Titel nicht mehr diese Exklusivität. Der Zenit ist erreicht, es braucht in meinen Augen nicht noch mehr Feste.
Wie stehen Sie zu Lebendpreisen?
Früher führte man die Lebendpreise noch zweimal täglich in der Arena vor. Jetzt können die Zuschauer die Tiere ausserhalb der Tribünen begutachten. Vorgeführt werden sie nicht mehr. Fakt ist, dass man für einen Muni, der 5000 Franken wert ist, eher einen Spender findet als für die reine Summe von 5000 Franken.
Tierschützer sind nicht einverstanden mit den Lebendpreisen.
Ich vernahm, dass ein Tierschutzverein beim Eidgenössischen in Pratteln gegen Lebendpreise demonstrieren wollte. Da dachte ich: Ihr seid mutig. Da gibt es 50'000 Leute, die Freude an diesen Tieren haben. Wenn da noch ein bisschen Alkohol ins Spiel kommt, könnte es wüste Folgen haben für die Tierschützer. Die hätten wohl auf den Grind bekommen (lacht). Deshalb ist es gut, hat Pratteln diese Demonstration nicht bewilligt. Dass man über Lebendpreise diskutiert, ist eine Wohlstandserscheinung.
Hatte Ihr Vater Freude, wenn Sie mit einem Lebendpreis nach Hause gekommen sind?
Ich brachte nur mein erstes Rind, das ich gewann, nach Hause. Und das auch nur, weil mein Bruder am selben Fest siegte und somit den Muni bekam. Er sagte mir: «Nimm das Rind heim, ich kaufe es dir mit dem Muni-Geld ab.» Ich hatte später das Glück, dass es bei mir dann sehr oft der Muni war und der passte selten in die Zucht zu Hause.