König Christian Stucki (37) steigt am Sonntag auf dem Weissenstein nicht in die Hosen. Er wird nach wie vor von Blessuren geplagt und hat seit einem Frühjahrsschwingen im April keinen Wettkampf und diese Saison noch kein Kranzschwingfest bestritten. Wird er wenigstens dazu in der Lage sein, den eidgenössischen Thron am letzten August-Wochenende in Pratteln zu verteidigen? Das ist die bange Frage der Berner.
Auf diese Frage können wir antworten: na und? Er wäre selbst in bester Verfassung kaum mehr zur Titelverteidigung in der Lage. Es spielt sportlich eigentlich gar keine Rolle, ob er in Pratteln dabei sein wird. Zu den Königsanwärtern gehört er nicht mehr.
Aber diese Einschätzung ist falsch. Kann er beim Eidgenössischen antreten, dann wird er eine entscheidende Rolle spielen. Nicht nur sportlich. Weil der König zum Mythos geworden ist. Was in diesem Zusammenhang bedeutet: Christian Stucki ist für die Berner zur Person von hoher symbolischer Bedeutung geworden. Sie können auf ihn nicht verzichten.
Die Regentschaft der Berner dauert nun schon eine gefühlte Ewigkeit. Seit 2010 sitzt ein Bär auf dem Thron: Kilian Wenger (2010), Matthias Sempach (2013), Matthias Glarner (2016) und Christian Stucki (2019). Was die «Bösen» aus der Nordost- oder Innerschweiz auch unternommen haben: Sie sind am Ende alle in den Bärengraben und auf den Rücken gefallen.
Um den «Mythos Stucki» zu erklären, müssen wir noch etwas weiter zurückblicken: Die Innerschweizer haben seit der Gründung der Zwilchhosen-Monarchie (des Eidgenössischen Schwingerverbandes 1895) erst einen einzigen König hervorgebracht. Die Berner haben hingegen den Thron 26 Mal bestiegen. Und dies, obwohl der Teilverband der Innerschweizer am meisten Aktive zählt und die Wiege des Schwingens in der Urschweiz liegt. Und nicht im Bernbiet.
Der Grund ist einfach: Der Teilverband der Berner ist in sechs sogenannte «Gaue» unterteilt: Emmental, Jura, Oberland, Mittelland, Oberaargau und Seeland. Beim Eidgenössischen aber sind alle Berner. Der Teamgeist ist legendär.
Der Teilverband der Innerschweizer ist hingegen in Kantone aufgesplittert: Zug, Luzern, Uri, Schwyz, Ob- und Nidwalden. Bis heute haben es die Innerschweizer nicht geschafft, den «Kantönligeist» zu überwinden und bei einem Eidgenössischen als Einheit aufzutreten. Darüber täuschen Äusserlichkeiten wie T-Shirts mit dem Aufdruck «Team Innerschweiz» oder Lippenbekenntnisse nicht hinweg. Sie treten beim Eidgenössischen als Zuger, Luzerner, Schwyzer, Urner oder Ob- und Nidwaldner an. Aber nicht als Innerschweizer.
Nur dem schlauen Harry Knüsel ist es bis heute als Innerschweizer gelungen, 1986 König zu werden. Er ist nicht der beste «Böse» der Innerschweizer Historie. Leo Betschart und vor allem Geni Hasler waren talentierter. Aber Harry Knüsel, auch als Unternehmer erfolgreich, gilt bis heute als taktisch vielleicht smartester und eigenwilligster Innerschweizer. Ein «Einzelkämpfer». 1986 beendet er die Herrschaft von Ernst Schläpfer, dem König von 1980 und 1983 aus der Nordostschweiz.
Teamgeist bedeutet beim Eidgenössischen: Die Vertreter der Teilverbände opfern sich notfalls, um einem Mitstreiter mit besserer Ausgangslage zu helfen: Nicht mehr den Sieg suchen. Sondern mit einem Gestellten (Remis) einen Mitfavoriten aus einem anderen Teilverband zurückbinden. Es geht um Viertelpunkte und dann fehlt ein «Vierteli» für den Schlussgang, das bei einem Gestellten (Remis) verloren ging. Und ebenso wichtig ist die gegenseitige Aufmunterung, die mentale Unterstützung.
Unvergessen bleibt in diesem Zusammenhang, wie die Berner «Bösen» wie Niklaus Gasser und Fritz Flühmann vor dem Schlussgang beim Eidgenössischen 1989 in Stans Adrian Käser abseits des Trubels in ihre Mitte genommen und auf den finalen Hosenlupf gegen den himmelhohen Favoriten und Innerschweizer Geni Hasler eingeschworen haben. Der erst 18-jährige Adrian Käser gewinnt und wird der jüngste Schwingerkönig der Geschichte. Bis heute eine der grössten Sensationen im Sägemehl.
Wie kein anderer Teilverband pflegen die Berner seit Generationen den Teamgeist, den Zusammenhalt beim Eidgenössischen. Im Sägemehl lebt etwas fort vom Stolz, Selbstvertrauen, Selbstverständnis und Zusammenhalt, jener Mentalität, die einst zur DNA der Berner gehörte, als sie im 17. und 18. Jahrhundert einer der mächtigsten und reichsten Stadtstaaten Europas waren. Heute sind sie auf das Geld der Zürcher und Zuger, der Nordostschweizer und Innerschweizer angewiesen, um den Staatshaushalt zu finanzieren. Nur beim Schwingen brauchen sie keine ausserkantonale Hilfe.
Und damit sind wir wieder bei Christian Stucki. Er hat sich bereits bei sechs Eidgenössischen Festen bewährt und ist sechsmal kranzgeschmückt heimgekehrt, zuletzt 2019 mit dem königlichen Goldkranz. Er ist populärer als die anderen Berner Könige seiner Epoche zusammen. Und doch frei von allen Allüren. Eine charismatische Integrationsfigur unter den «Bösen» aus dem Bernbiet. Eine Schlüsselfigur neben dem Sägemehl – und nach wie vor auch im Sägemehl.
Wenn er in Pratteln antreten kann, dann wird er von der Einteilung nicht geschont. Dann wird er gleich zum Auftakt gegen einen Favoriten der Innerschweizer oder Nordostschweizer antreten müssen. Selbst im Falle einer Start-Niederlage sind ihm als König auch im zweiten, dritten oder vierten Gang mächtige Gegner sicher. «Fallobst» (vermeintlich leichte Gegner) gibt es für den König bei der Einteilung nicht.
Christian Stucki dürfte klar sein, dass er seinen Titel gegen die jüngere Konkurrenz nicht mehr verteidigen kann. Das Alter spielt eine Rolle. Er ist bis heute der zweite, der nach seinem 30. Geburtstag König geworden ist.
Aber er kann den Bernern noch immer helfen. Mag sein, dass der Titan (198 cm/140 kg) gegen einen Königsanwärter nicht mehr gewinnen kann. Aber wenn er nicht verlieren will, wenn er sich für die Berner opfert, um einen Favoriten zurückzubinden – dann verliert er mit ziemlicher Sicherheit nicht.
Das ist der «Mythos Stucki», der für die Berner so wichtig ist: Erstens die Ruhe und die Kraft, die er durch seine Anwesenheit ausstrahlt und zweitens seine Fähigkeit, noch immer den «bösesten» Innerschweizern und Nordostschweizern ein Remis abzuringen. Auch dann, wenn er nicht in Bestform ist.
Die Berner können auf den «Mythos Christian Stucki» nach wie vor nicht verzichten.