Kreuzbandrisse gehören zum täglichen Risiko im Skirennsport. Bei einem Sturz ist eine solche Verletzung schnell passiert. Ob sich das Knie nach einem Abflug verdreht und in welchem Moment sich ein Ski löst, ist letztlich von vielen verschiedenen Faktoren abhängig.
Ein kurzes unkontrolliertes Kantenfassen des Skis, ein Schlag im dümmsten Moment oder eine unerwartete Drucksituation in einer Kurve reichen aus, um das Knie maximal zu belasten und eben auch zu schädigen. Beim Sturz von Odermatt-Rivale Marco Schwarz in Bormio wurde das Knie wohl geschädigt, bevor der Fahrer zu Boden musste.
Seit mehreren Jahren arbeitet ein Forschungsteam im Auftrag von Swiss Ski am Projekt, wie das Risiko einer solchen Verletzung zu erkennen ist, bevor sie passiert. Dabei geht es um die Frage, was der Körper einer unerwarteten und unmittelbaren Belastung entgegensetzen kann. Weil sich das Gelingen innert Sekundenbruchteilen entscheidet, spielt die Ermüdung der Muskulatur dabei eine entscheidende Rolle. Trainingsplanung und Belastungssteuerung sind wesentliche Faktoren, mit denen man bei dieser Art von Kreuzbandrissen den Faktor Zufall stark limitieren kann.
«Die meisten Kreuzbandrisse ereignen sich im letzten Viertel eines Rennens» erklärt Jörg Spörri, Leiter der Sportmedizinischen Forschung an der Universitätsklinik Balgrist in Zürich. Der ehemalige Europacup-Fahrer und langjährige Trainerausbildner in Diensten von Swiss Ski leitet das Projekt «Injury Screening and Prevention in Alpine Skiing» (ISPA). Daraus ist ein Früherkennungs- und Präventionsprogramm für schwere Knieverletzungen entstanden.
Die Forschungsphase zur Verletzungsprävention begann 2017. Auf die Erarbeitung einer Ist-Analyse, der umfangreichen Erhebung von statistischen Daten, der Ermittlung von Risikofaktoren und funktionellen Defiziten sowie der Definition von Algorithmen und Messmethoden folgte der Start der Umsetzungsphase vor rund zwei Jahren. In der praktischen Arbeit geht es um den Einsatz von Trainingsinterventionen und massgeschneiderten Gegenmassnahmen.
Nach einer Pilotphase im vergangenen Winter arbeiten die Athletinnen und Athleten von Swiss Ski seit dieser Saison auf breiter Front mit der App «My Swiss Ski». Diese erfasst in Form von verschiedenen Fragestellungen Daten zum Wohlbefinden, welche den Trainern und Medizinern in Form eines Ampelsystems Anhaltspunkte über die aktuelle physische Verfassung ihrer Schützlinge bietet.
Gemäss Geschäftsführer Walter Reusser arbeiten neben den Alpinen auch die Nordischen mit der App. Ziel ist es, dass sie schnellstmöglich in sämtlichen Disziplinen von Swiss Ski eingesetzt wird. Neben dem Bereich Kreuzband sind weitere Gesundheitsthemen mit Einfluss aufs Training wie etwa Energiezufuhr oder weiblicher Zyklus in der App integriert.
Jörg Spörri sagt, dass man im Bereich der Knieverletzungen den Fokus vor allem auf den Nachwuchsbereich legt. «Dort hat man die grössten Hebel. Weil das Risiko für einen weiteren Kreuzbandriss nach dem ersten auf ein Vierfaches steigt, versuchen wir den ersten zu verhindern oder zumindest hinauszuzögern.» Deshalb legt man den Fokus auf die richtigen Trainingsakzente bei den U16-Fahrern, so dass diese später einmal mit deutlich weniger Vorverletzungen in den Weltcup einsteigen.
Spörri erklärt, während ein Topathlet nach einer Verletzung kurz vor einem WM-Einsatz allenfalls punkto körperlicher Verfassung ein bewusst kalkuliertes Risiko eingehen will, sollte im Nachwuchsbereich eine Nulltoleranz herrschen und jede Verletzung vollständig ausgeheilt sein, bevor Athleten wieder in das Wettkampfgeschehen eingreifen.
Walter Reusser sagt es anschaulich: «Ein möglicher Schweizer Meistertitel beim Nachwuchs entscheidet nicht darüber, was für eine Karriere ein Sportler macht. Eine schwere Knieverletzung hingegen hat viel grössere Auswirkungen auf einen Karriereverlauf.» Und statistisch gesehen, liegt das Risiko eines Skirennfahrers je nach Studie zwischen 5 und 15 Prozent, während einer Saison einen Kreuzbandriss zu erleiden.
Das Projekt dient auch der Sensibilisierung von Betreuungspersonen. Man müsse in der Trainerausbildung das Bewusstsein fördern, dass Kraftaufbau nicht nur der Leistungsoptimierung, sondern auch der Gesundheitsprävention dienen soll, sagt Spörri. Die App dient auch als digitale Plattform mit unzähligem Ausbildungsmaterial. Reusser erklärt, dass allein 500 Videos mit Trainingsanwendungen darauf zu finden sind.
Wichtig auch, dass man sich nach einem Kreuzbandriss genügend Zeit bis zum Comeback lasse. Das Risiko einer Wiederholung der Verletzung ist bei einem forcierten Wiedereinstieg ungleich höher.
Mit welchen Faktoren aber kann man einem Kreuzbandriss vorbeugen? Spörri sagt, dass maximal exzentrische Hamstrings-Kraft (hintere Beinmuskulatur), Beinachsenstabilität und Rumpfstabilität einen wesentlichen Einfluss haben und man im Rahmen des Projekts unter anderem entsprechende präventive Tests entwickelt hat.
Kommt das Knie in eine Verletzungssituation, knickt es meist nach innen und verlässt die natürliche Achse des Beins. In diesem Moment kann eine maximale Aktivierung der hinteren Beinmuskulatur und der Hüftaussenrotatoren einen Riss der Bänder vielleicht verhindern. Aber nur, wenn sie schnell genug und richtig getimt reagiert. Dafür muss sie genügend explosiv und frisch sein.
Im Fall von Überflieger und Vielstarter Marco Odermatt geht es nicht darum, dass er bei ermüdeter Muskulatur auf einen Renneinsatz in Kitzbühel verzichtet. Sondern darum, dass er die Belastung im Training so steuert, um mit bestmöglicher Fitness am Start zu stehen. Jörg Spörri sagt, dass ein Skifahrer wie Odermatt seinen Körper enorm gut kennt, dessen Signale richtig deuten und so das potenzielle Risiko wahrnehmen kann.
Vor allem junge Skirennfahrer müssen jedoch erst lernen, diesbezüglich ehrlich zu sich selbst zu sein. «Objektive Daten der App können helfen, hier Entscheidungskompetenz zu erhalten». Wenn der beste Skifahrer der Welt wie zuletzt beim Super-G in Wengen sagt, es sei ein Prozent Sicherheit mitgefahren, dann reicht es vielleicht nicht zum Sieg, aber es schützt vor einer möglichen Verletzung wegen körperlicher Überlastung.
Das Projekt von Swiss Ski stösst auch international auf grosses Interesse. Jüngst hat die FIS mit dem Wunsch angeklopft, ISPA auch für andere Nationen verfügbar zu machen. Walter Reusser sagt dazu: «Auch wenn wir vielleicht einen gewissen Vorteil Preis geben, ist es die Verletzungsprävention wert, dass es in diesem Bereich kein Konkurrenzdenken gibt.»