Mit drei aktuellen Weltmeistern startet die Schweiz in die Ski-Saison 2017/18 – so viele wie seit 1992 nicht mehr. Dennoch herrscht kurz vor dem Beginn des Winters eine gewisse Unsicherheit über die Stärke des Schweizer Teams.
Masse statt Klasse – so könnte man das Kader überspitzt in einem Nebensatz zusammenfassen. Die sonst schon nicht breite Spitze wurde durch Verletzungen noch einmal mehr ausgedünnt. Leader Carlo Janka fehlt vermutlich einen grossen Teil des Olympiawinters. Lara Gut hat nach ihrem Kreuzbandriss bei den Weltmeisterschaften in St.Moritz im Februar Trainingsrückstand. Am Freitag teilt die Tessinerin aber überraschend mit, dass sie in Sölden doch am Start stehen wird.
Doch ganz so schlimm ist es nicht. In den vergangenen zwei Jahren sah es vor der Saison jeweils ähnlich aus und dennoch konnten Swiss-Ski-Fahrer jeweils mit den besten Nationen mithalten. Vor allem, weil die «Masse» besser geworden ist. Die jungen Talente beginnen je länger je mehr konstant gute Resultate einzufahren. Auch wenn es dann meistens noch nicht zu den absoluten Spitzenplätzen reicht, darf sich der Schweizer Ski-Fan auf eine spannende Saison freuen.
Die beste Nachricht zuerst: Für einmal sind den ganzen Sommer durch keine Verletzungsmeldungen zu Beat Feuz eingetrudelt. Dass der Schangnauer mehr oder weniger beschwerdenfrei in die Saison starten kann, ist eine Seltenheit. Wenn aus dem Schweizer Abfahrtsteam einer Podestplätze oder gar Siege einfahren kann, dann er.
Carlo Janka, der zweitbeste Schweizer Abfahrer der vergangenen Saison ist durch einen Kreuzbandriss ausser Gefecht gesetzt.
Gespannt darf man sein, wie sich Patrick Küng in diesem Winter schlägt. Der vergangene Winter verlief für den Glarner enttäuschend, und im Sommer war es sehr ruhig um den Abfahrtsweltmeister von 2015. Von Mauro Caviezel wird der nächste Schritt erwartet, nachdem er letztes Jahr regelmässig in die Top-20 fuhr.
Doch es gibt da noch ein weiteres Problem: Noch ist ungewiss, wie oft die Schweizer Athleten tatsächlich Abfahrt trainieren können. Anfang November wollten die Speed-Spezialisten nach Nordamerika fliegen um dort trainieren zu können. Doch in Copper Mountain sind die Schweizer nicht willkommen, nachdem die Verbandsführung im Frühjahr den Amerikanern verbot, auf der WM-Strecke von St.Moritz zu trainieren.
Alternativen in den USA wären Vail und Aspen. Doch in Vail sind keine Abfahrts-Trainings möglich und in Beaver Creek ist derzeit noch kaum Schnee in Sicht.
In dieser Disziplin kriegt Feuz Unterstützung von Mauro Caviezel. Der Bündner holte vergangenen Winter genau wie Feuz einen Podestplatz. Beim Saison-Finale in Aspen fuhr der 29-Jährige auf den dritten Platz und bestätigte damit seine Aufwärtstendenz.
Hinter Patrick Küng steht auch im Super-G ein Fragezeichen. Vergangene Saison schaffte er es in keinem Rennen unter die besten 20 Athleten. Aber eigentlich hat er das Potential, hier regelmässig in die Top-10 zu fahren. Von der dritten Garde um Ralph Weber, Niels Hintermann, Thomas Tumler sind kaum grosse Sprünge zu erwarten.
Der Riesenslalom ist die Sorgendisziplin von Männer-Cheftrainer Tom Stauffer. Justin Murisier kommt noch nicht für regelmässige Podestplätze in Frage. Vergangene Saison zeigte er konstant gute Leistungen. Es bleibt abzuwarten, wie der Walliser mit der Umstellung auf die neuen Riesenslalom-Skis zurechtkommt.
Gino Caviezel und die jungen Marco Odermatt und Loïc Meillard haben das Potential für Top-10-Plätze. Doch dafür braucht es im starken Riesenslalomfeld jeweils konstante Leistungen.
In der einstigen Sorgendisziplin ist das Swiss-Ski-Team mittlerweile ziemlich breit besetzt. Daniel Yule nähert sich der Weltspitze immer weiter an. Vergangene Saison war der Walliser zwischenzeitlich sogar in der Spitzengruppe der besten sieben Fahrer vertreten. Ein vierter Platz in Zagreb war sein bestes Ergebnis 2017. Diesen Winter liegt für den 24-Jährigen noch mehr drin.
Luca Aerni hat vor allem ein Problem: die Konstanz. Der Berner verfügt eigentlich über genug Talent, um im Slalom ganz vorne mitzufahren. Doch meistens bringt er nur einen guten Lauf durch den Stangenwald – wenn er ihn denn überhaupt ins Ziel bringt. Der 24-Jährige greift immer voll an. Wenn das mal aufgeht, sind Spitzenplätze möglich.
Mit dem gleichen Problem kämpft Loïc Meillard. Der 21-Jährige kam vergangenen Winter nur bei einem Rennen ins Ziel. Mit Rang 12 in Kranjska Gora hat der Romand aber gezeigt, was er drauf hat.
Die stärkste Disziplin der Schweizer ist die Kombination. Mit Luca Aerni, Justin Murisier und dem verletzten Carlo Janka hat das Männer-Team gleich mehrere Athleten, die hier aufs Podest fahren können. Wenn der WM-Dritte Mauro Caviezel zur «zweiten Garde» gehört, ist das ein sehr gutes Zeichen.
Lara Gut startet ihre Weltcup-Saison nun überraschend doch schon in Sölden, statt erst in Nordamerika. Die Tessinerin sagte vor der Saison, sie wolle diesen Winter vermehrt bewusste Pausen einlegen. Das heisst dass sie wohl eher ab und zu auf technische Disziplinen oder Kombinationen verzichtet und die Karten auf die Speed-Rennen setzt. In diesen ist das Schweizer Team auch stark von Gut abhängig. Letztes Jahr holte sie in der Abfahrt drei Podestplätze heraus – als einzige Schweizerin.
Corinne Suter, die zweitbeste Schweizer Abfahrerin des vergangenen Winters startet mit Trainingsrückstand in die Saison. Die Schwyzerin zog sich im September einen komplexen Bänderriss im linken Daumen zu und konnte deshalb lange nicht auf Schnee trainieren. Doch die 23-Jährige ist das grösste Speed-Talent der Schweizer Frauen. Wenn alles rund läuft, ist in dieser Saison der erste Podestplatz möglich.
Der Rücktritt von Fabienne Suter hinterlässt eine Lücke im Team von Cheftrainer Hans Flatscher. Die 32-Jährige war letzte Saison lange verletzt, sorgte aber im Winter zuvor regelmässig für Erfolgserlebnisse. Das kann von Jasmine Flury, Michelle Gisin und Joana Hählen wohl nicht erwartet werden.
Auch im Super-G muss Lara Gut für die Schweiz die Kohlen aus dem Feuer holen. Man darf erwarten, dass der Tessinerin das gelingt, gewann sie doch im vergangenen Winter die ersten drei Rennen in dieser, ihrer besten Disziplin.
Dahinter wartet erneut Corinne Suter als zweitbeste Schweizer Athletin. Dabei lief es der 23-Jährigen im Super-G zuletzt besser als in der Abfahrt. Aber in der technischeren der beiden Speed-Disziplinen fehlt es den Schweizern Frauen etwas an der Breite. Jasmine Flury und Joana Hählen haben das Potential für Top-10-Resultate. Sie müssen es nur ausschöpfen.
Nicht nur in den schnellen Disziplinen, auch im Riesenslalom hängt vieles an Lara Gut. Die 26-Jährige ist die einzige Schweizerin, die in der Lage ist, hier regelmässig Podestplätze herauszufahren. Vergangenes Jahr siegte sie beim Saisonauftakt in Sölden und wurde in Sestriere und Maribor dritte.
Die Frage ist, wie schnell Gut das Selbstvertrauen in den technischen Disziplinen nach ihrem Kreuzbandriss wieder findet. Gelingt das rasch, kann sie sich auch im starken Riesenslalom-Feld durchsetzen.
Mit Simone Wild fällt die zweitbeste Riesenslalom-Fahrerin des vergangenen Winters aus – vier Mal fuhr sie unter die besten 15. Die Zürcherin brach sich vor wenigen Tagen das Schienbein. Wann die 23-Jährige zurückkehren kann, ist derzeit noch unbekannt. Wild muss aber sicherlich mit einer mehrwöchigen Pause rechnen.
Mélanie Meillard und Camille Rast sind beide jung und talentiert, aber noch unerfahren. Regelmässige Spitzenplätze sind von beiden nicht zu erwarten. Doch das es für einen gelegentlichen Exploit reicht, haben Rast mit Rang 9 am Kronplatz und Meillard mit Platz 8 in Aspen zuletzt bewiesen.
Die Schweizer Slalomkönigin Wendy Holdener will endlich Mikaela Shiffrin schlagen. Und wenn sich die Schwyzern weiterhin so konstant verbessert, wie sie das in den letzten Jahren getan hat und Shiffrin sich vermehrt auch auf die schnellen Disziplinen konzentriert, wird ihr das gelingen.
Mit sechs Podestplätzen (2 Mal Zweite und 4 Mal Dritte) war sie im vergangenen Winter die drittbeste Slalomfahrerin der Saison. Durch den Rücktritt von Sarka Strachova und der Verletzung von Veronika Velez-Zuzulova ist die Konkurrenz auch kleiner geworden.
Eine Chance auch für die weiteren Athletinnen im Schweizer Slalom-Team. Wenn alles zusammenpasst ist Mélanie Meillard gar der Sprung aufs Podest zuzutrauen. 2016/17 war sie mit den Rängen 6 in Levi und 5 in Aspen schon nahe dran.
Michelle Gisin hat eine durchzogene Slalom-Saison hinter sich. Zwar fuhr sie regelmässig in die Top-15, doch sie erwartet mehr von sich selbst. Nun kommt ihr kurz vor dem Saisonstart noch ein angerissenes Innenband am rechten Knie in die Quere.
Wie bei den Männern, ist auch bei den Frauen die Kombination die stärkste Disziplin. Unvergessen ist der Doppelsieg von Wendy Holdener und Michelle Gisin an der WM in St.Moritz. Aber auch Lara Gut hat in der Kombination immer gute Chancen, wenn sie sie bestreitet. Zudem ist der Test der Alleskönner auch eine Chance für Denise Feierabend, sich weit vorne klassieren zu können.
Mit Beat Feuz, Lara Gut und Wendy Holdener hat die Schweiz also nur noch drei Athleten, die in einer oder mehreren Disziplinen zu den absoluten Favoriten gezählt werden. Dahinter wartet aber eine schlagkräftige zweite Garde, die auch für den einen oder anderen Exploit fähig ist.
Erzrivale Österreich in der Nationenwertung zu schlagen, dürfte auch heuer ein Ding der Unmöglichkeit werden, denn unser östlicher Nachbar ist noch einmal deutlich breiter aufgestellt. Aber die Schweiz kann den anderen Top-Nationen Italien, Frankreich, Deutschland, Norwegen und den USA durchaus Paroli bieten.