Als er nicht mehr weiterwusste, begann Alexis Pinturault zu schreiben. Oder zumindest zu erzählen. Ohne das Buch, das daraus entstanden ist, gäbe es den Skiprofi Pinturault heute vielleicht nicht mehr.
Jetzt besteht immerhin die Möglichkeit, dass sich erfüllt, was vorgesehen ist, seit die Ski-WM 2018 an Courchevel vergeben wurde: Dass Pinturault und damit ein Kind des Nobelorts in den französischen Alpen zum Star der WM wird. Oder zumindest nicht leer ausgeht. So weit ist es gekommen.
Doch beginnen wir dort, wo sich rückblickend für Pinturault vieles veränderte: Im März 2021, als er den Gesamtweltcup gewann. Es ist die höchste Auszeichnung im Skisport. Fast so etwas wie der Heilige Gral. Es gibt Zufallsweltmeister und überraschende Olympiasieger. Doch die grosse Kristallkugel wurde noch nie zufällig in die Hände eines Athleten übergeben, weil sie für die Leistungen einer ganzen Saison steht.
Für Pinturault, aufgewachsen und erzogen, um immer nach dem Höchsten zu streben, war der Gewinn des Gesamtweltcups das grösste Ziel. Seine Familie führt das Luxushotel Annapurna in Courchevel. In einem Interview mit «24 heures» sagte er einst: «Der Gedanke, sich selbst zu übertreffen, war allgegenwärtig.» Pinutrault mass sich lange daran.
Damals, im März 2021, setzte sich Pinturault in den letzten Rennen der Saison entscheidend von Marco Odermatt ab und hatte auch Glück, dass das unbeständige Wetter das Programm zu seinen Gunsten veränderte. Pinturault wurde Gesamtweltcup-Sieger. Er war am Ziel seiner Träume. Und fiel in ein Loch.
Eigentlich erwarteten von da an alle ein grosses Duell zwischen Pinturault und Odermatt um die grosse Kristallkugel. Doch während der Schweizer den Gesamtweltcup im darauffolgenden Winter äusserst souverän gewinnen konnte, klassierte sich Pinturault weit abgeschlagen auf Rang zehn, mit über 1000 Punkten Rückstand. Er verlor die Perspektiven, die Hoffnung, die Ziele.
Und er begann zu schreiben. Im französischen Fernsehen sagte Pinturault: «Ich war an einem Punkt angelangt, an dem es mir wichtig war, ein Kapitel meines Lebens abzuschliessen, um ein neues zu starten. Ich spreche im Buch über alles, was mir am Herzen liegt. Es war eine Therapie für mich.»
Pinturault stellte im Rückblick fest, dass er sich nach dem Triumph im Gesamtweltcup nie die Zeit nahm, zu realisieren, was ist und was war. Er musste lernen, dass das Streben nach dem Höchsten nicht zwangsläufig bedeutet, Vergangenes zu übertreffen, sondern auch neue Ziele erlaubt.
Der heute 31-Jährige fand die Freude am Skisport wieder. Und doch verlief auch die aktuelle Saison bisher nicht ideal. Nur einmal, als Dritter im Super-G von Beaver Creek, stand Pinturault auf dem Podest. Trotzdem, sagt er, dass ihn die Entwicklung in den vergangenen Rennen sehr positiv stimme: «Nicht unbedingt die Resultate, aber es waren wichtige Schritte vorwärts.»
Die entscheidende Frage wird sein, wie Pinturault an der WM mit den enormen Erwartungen umgehen wird. Ein Mediengespräch sagte er am Sonntag kurzfristig ab. Der Grund: leichtes Fieber. Pinturault zog sich in seine Wohnung im Luxushotel zurück. Dorthin, wo alles angefangen hat. Aber auch dorthin, wo ihm gelehrt wurde, dass nur das Beste im Leben gut genug ist.
Pinturault hat in der Vergangenheit immer wieder beklagt, dass der Skisport in Frankreich zu wenig Beachtung finde. Nun – mit der WM vor seiner Haustür – ändert sich das für kurze Zeit. Es ist seine Chance. Und Last zugleich. Die besten Voraussetzungen für eine Medaille hat er wohl bereits heute in der Kombination. Als Allrounder mit Starts in allen Disziplinen ist der 31-Jährige quasi prädestiniert für diesen Wettkampf.
Doch auch im Super-G wird dem Franzosen in Courchevel einiges zugetraut. Zumal Pinturault die WM-Piste seit frühester Kindheit kennt. Und somit jeden Übergang und jede Welle. Dies ist mit ein Grund, warum sich auch Odermatt für einen Start in der Kombination entschied. Schliesslich ermöglicht ihm das ein Training auf dem Hang, wo es am Donnerstag im Super-G um Gold geht.
Odermatt gegen Pinturault. Es war schon einmal das erwartetet Duell. Damals ist nichts daraus geworden. Und dieses Mal? Die nächsten Tage werden zeigen, ob die Therapie in Buchform dem Franzosen geholfen hat. (aargauerzeitung.ch)