Ende September in Zermatt. Die Bedingungen sind nicht ideal, die Piste eine Spur zu weich. Gewohnt hochtourig feilt Corinne Suter an ihrer Form. Der Saisonstart naht, das Training will genutzt sein. Mit rund 100 km/h ist die Schwyzerin unterwegs, als sie den Halt verliert und wegrutscht. Es ist ein Sturz, der ihr die Augen öffnet.
«Ein gar nicht so schlimmer Sturz, eigentlich», sagt die Abfahrtsweltmeisterin zwei Monate später. Doch weil die Ski im Rutschen plötzlich greifen, bleibt er nicht ohne Folgen. Suter zieht sich schwere Knochenprellungen an beiden Schienbeinplateaus sowie Schürfwunden im Gesicht zu, muss mehrere Wochen mit dem Training aussetzen.
Und doch hat Suter Glück, «Riesenglück», wie sie sagt. Wobei auch die Muskulatur, die sie über die Jahre aufgebaut hat, Schlimmeres verhindert und dazu beiträgt, dass sie zwei Monate später in Lake Louise, im Winterparadies des Banff-Nationalparks, wo die Speedfahrerinnen ihre Saison lancieren, startklar für einen erfolgreichen Olympiawinter ist.
Drei Tage vor der ersten Abfahrt am Freitag sitzt Suter in einem Sessel im feudalen Hotel Chateau am Ufer des weltberühmten Luisensees und gibt Auskunft. Suter wirkt geerdet, mit sich im Reinen – zufrieden mit dem, was sie hat, nicht mehr getrieben von der Anspannung früherer Jahre. Im Zentrum des Gesprächs stehen wieder sportliche Belange. Aber die weltweite Entwicklung der Pandemie gibt ihr zu denken, verschafft ihr einen anderen Blick auf ihr Dasein als Skirennfahrerin. Sie sagt:
Auch das trägt zu ihrer neuen Lockerheit bei. Vor allem sind es aber die Erfolge und deren mehrfache Bestätigung, die ihr jene Ruhe geben, die ihr in den Jahren zuvor gefehlt haben, um das Talent zu entfalten. WM-Silber und -Bronze 2019, noch vor dem ersten Podestplatz im Weltcup, lösten den Knopf schlagartig. Der WM-Erfolg wirkte wie ein Ketchup-Effekt. Seither fährt sie konstant vorne mit. Dass ihr durch die Verletzung im September in der Vorbereitung wichtige Trainingskilometer entgangen sind, wurmt Suter nicht. Im Gegenteil.
«Am Anfang hatte ich Mühe. Ich wurde von hundert auf null gebremst, das war schwierig», sagt sie. Zugleich erkennt sie, wie gut ihr die Pause bekommt. «Vier, fünf Tage habe ich etwa 14, 15 Stunden am Stück durchgeschlafen. Da habe ich gemerkt, dass der Körper das gebraucht hat.» In den folgenden Wochen geniesst sie, dass sie wieder einmal Zeit für andere Dinge hat, für die Familie, die Pferde.
Der Erfolg brachte auch eine Reihe zusätzlicher Verpflichtungen. Suter wurde zu einer gefragten Person, preschte im Sponsoring-Bereich in neue Sphären vor. Unter anderem ging sie eine Zusammenarbeit mit einer grossen Uhrenmarke ein, für die auch Sportgrössen wie Usain Bolt, Novak Djokovic und Kylian Mbappé werben.
Zu den Deals gehören Verpflichtungen auf Social Media - ein zweischneidiges Schwert, findet Suter, die seit den WM-Erfolgen 2019 mehr von sich preisgibt und auch Bikini-Bilder aus den Ferien postet. Sie versuche, nicht zu viel Zeit in den sozialen Medien zu verbringen. Man müsse damit umzugehen wissen:
Trotz der längeren Trainingspause ist Suter im Olympiawinter alles zuzutrauen. Vor der Verletzung sei die Schwyzerin bestechend unterwegs gewesen, danach habe sie rasch wieder an dieses Niveau angeknüpft, sagt Roland Platzer, der Schweizer Speedtrainer. Die SRF-Expertin und ehemalige Teamkollegin Tina Weirather attestiert ihr die Qualitäten, um eine Seriensiegerin zu sein.
In der Primarschule schrieb Suter in ein Freundschaftsbuch, ihr grösster Traum sei es, Olympiasiegerin zu werden. In gut zwei Monaten könnte sie sich der Kindheitstraum in China erfüllen. Doch darauf will sich die Athletin, die in den letzten zwei Jahren in mehr als der Hälfte der Abfahrten auf das Podest gestiegen ist, nicht versteifen. «Schritt für Schritt. Zuerst muss es im Weltcup laufen», mahnt sie. (aargauerzeitung.ch)