Sensationssieger, Zufallsweltmeister, One-Hit-Wonder – Bezeichnungen für Skifahrerinnen und Skifahrer, die an Weltmeisterschaften mit ihren Goldfahrten überraschten, gibt es viele. Wir erzählen ihre Geschichten.
Wie oft hat es Urs Lehmann gehört: Zufallsweltmeister! Und sein Sieg in der WM-Abfahrt 1993 im japanischen Morioka ist ja auch so etwas wie der Inbegriff einer WM-Sensation. Zumindest für Aussenstehende. Nicht für Lehmann selbst. Der heutige Präsident von Swiss-Ski hat sich akribisch auf dieses Rennen vorbereitet. Schon 1989 fuhr er erstmals auf der WM-Piste.
Karl Frehsner hatte damals ausgehandelt, dass drei Schweizer nach Japan fliegen durften. Auch 1990 und 1991 reiste Lehmann nach Morioka und gewann 1991 sogar die japanischen Meisterschaften. Die Gleiterstrecke beherrschte er. 1992 – Lehmann konnte verletzt nicht nach Japan reisen – schickte sein Ausrüster ein Team nach Japan, um Skitests zu veranstalten.
Der Plan ging auf. Lehmann wurde Weltmeister. Auch weil das Rennen wegen schlechten Wetters immer wieder verschoben wurde. Während viele seiner Konkurrenten die Konzentration verloren, blieb Lehmann konzentriert. Er wusste, es wird die Chance seines Lebens. Er hatte recht. Und doch haftet der Ruf des One-Hit-Wonders an ihm. Im Weltcup fuhr er nie auf das Podest. Dem «Tages-Anzeiger» sagte der heute 55-Jährige einst: «Wenn schon, bin ich eine Viertagesfliege. Schliesslich habe ich auch zwei Trainings gewonnen und das eine nur nicht, weil ich früh abbremste.»
Berühmtheit erlangte Marion Rolland durch ein Missgeschick. Als sie 2010 zur Olympia-Abfahrt startete, wollte sie mit Schlittschuhschritten Tempo aufbauen. Doch die Französin verkantete und stürzte. Das Video machte schnell die Runde, der Spott war riesig – und Rollands Kreuzband gerissen.
Die Häme setzte der Französin zu. «Der Glaube an mich selbst ist etwas, an dem ich ständig arbeiten musste», sagte sie nach ihrem WM-Triumph. In Schladming hatte sie im Jahr zuvor ihre beiden einzigen Podestplätze im Weltcup herausgefahren. An diesen Erfolgen hielt sie sich fest. Die grosse Leidtragende ihres Exploits war eine Schweizerin. Nadja Kamer wurde von Rolland auf Rang vier verdrängt, nur vier Hundertstel fehlten ihr zu Bronze.
Eigentlich war der Super-G John Kuceras stärkste Disziplin. Doch seinen grössten Erfolg feierte er in der Abfahrt. Mit kräftiger Unterstützung von Petrus. Als Kucera 2009 mit Startnummer zwei zur WM-Abfahrt in Val-d'Isère startete, waren die Sichtbedingungen gut. Später zog Nebel auf. Und bremste die Favoriten. Didier Cuche kam zwar bis auf vier Hundertstel an Kucera heran. Und Carlo Janka verlor als Dritter nur 17 Hundertstel. Den Sensationssieg konnten die beiden Schweizer allerdings nicht verhindern.
Vor diesem WM-Rennen war Kucera im Weltcup in der Abfahrt nie besser als Siebter. Nur dreimal schaffte er es in der Königsdisziplin überhaupt in die Top Ten. Der Kanadier, dessen Eltern einst aus Tschechien nach Nordamerika ausgewandert waren, begründete seinen Erfolg damit, dass die Kurssetzung einem Super-G glich. Topfavorit Christof Innerhofer, der nur Rang zehn belegte, sagte: «Bei regulären Bedingungen wäre Kucera nicht Weltmeister geworden.» Janka sagte: «Er hat seine Chance genutzt.»
Als Mikaela Shiffrin nach dem ersten Lauf des Frauen-Slaloms an den Weltmeisterschaften 2023 in Courchevel/Méribel in Führung lag, deutete noch wenig auf eine Sensation hin. Die US-Amerikanerin, zuvor schon vierfache Weltmeisterin, war als grosse Favoritin in das Rennen gegangen. Dass sich mit Laurence St-Germain eine unscheinbare Kanadierin auf Zwischenrang drei einreihte, wurde nur als Randnotiz wahrgenommen.
Mit Startnummer 18 war St-Germain im ersten Lauf eine erstaunlich starke Fahrt gelungen. Doch ihr Meisterstück lieferte die heute 30-Jährige im zweiten Lauf. Fast unglaubliche 1,18 Sekunden nahm sie Shiffrin ab und krönte sich zur Weltmeisterin. Perplex erkundigte sich St-Germain bei Lena Dürr, die Rang drei belegte, wo sie sich jetzt hinstellen müsse, um auf die Siegerehrung zu warten. Später stammelte sie ins Mikrofon: «Es ist verrückt.» Bestätigen konnte die noch aktive Kanadierin ihren Exploit nie.
Wie wichtig die Besichtigung sein kann, bewies Hansjörg Tauscher an der WM 1989 in Vail. Während die meisten Favoriten die von Bernhard Russi konstruierte «Rattle-Snake-Alley»-Passage, eine extra vereiste Doppel-S-Kurve, unterschätzten, studierte der Deutsche diese Stelle akribisch genau. Und tatsächlich durchfuhr er den Streckenabschnitt in der WM-Abfahrt viel schneller als alle anderen und wurde vor den Schweizern Peter Müller (2.), Karl Alpiger (3.), Daniel Mahrer (4.) und William Besse (5.) Weltmeister.
Im Weltcup stand Tauscher zuvor noch nie auf dem Podest. Und auch der WM-Titel befeuerte die Karriere des Deutschen nicht. Immerhin feierte er 1992 in der Abfahrt von Garmisch als Dritter sein einziges Weltcup-Podest.
Damit hatten die Organisatoren nicht gerechnet. Als die Australierin Zali Steggall an den Weltmeisterschaften 1999 in Vail Gold im Slalom gewann, wurde bei der Siegerehrung die armenische Nationalhymne gespielt. Erst am nächsten Tag war «Advance Australia Fair» aufgetrieben und konnte die Zeremonie wiederholt werden. Zum Schutz der Organisatoren sei gesagt: Eine Weltmeisterin aus der südlichen Hemisphäre gab es zuvor nie.
Steggall, die heute als Politikerin auftritt, hat das Skifahren in Frankreich gelernt. Zwischen ihrem vierten und vierzehnten Lebensjahr wohnte sie mit ihren Eltern in Morzine. Nach drei Jahren zurück in der Heimat kehrte Steggall nach Europa zurück, um Skiprofi zu werden. Im Weltcup schaffte es die Australierin nur viermal in die Top fünf. Sie sparte sich ihre besten Läufe für Titelkämpfe auf: 1998 gewann sie Olympia-Bronze im Slalom.
Seine Leidenschaft war die Musik. Aber Skifahren konnte Patrick Staudacher auch ganz gut. Zum Leidwesen seiner Bandkollegen, die damals auf ihrer Homepage schrieben: «Leider ist das Skihaserl fast den ganzen Winter fort.» An der WM 2007 zeigte sich, dass es sich lohnte. Im Super-G fuhr Staudacher, der im Weltcup zuvor nur einmal die Top 5 erreicht hatte, vor Fritz Strobl zu Gold. Und dahinter wurde es richtig eng: Bruno Kernen auf Rang drei war eine Hundertstelsekunde schneller als Didier Cuche. Bis zu Rang zehn waren es nur gerade sieben Hundertstel.
Staudacher, der Bass und Ziehharmonika spielte, sagte nach seinem Coup in der NZZ: «Unglaublich. Vielleicht hilft mir ja das Feiern, das alles zu verstehen.» Der Italiener war in seiner Karriere oft verletzt und unterzog sich im WM-Winter einer Hornhautoperation am Auge, die zwei Wochen vor der WM wiederholt werden musste. Den WM-Super-G bestritt er gemäss eigener Aussage mit 90 Prozent Sehstärke auf dem rechten Auge.
Ob Kate Pace überhaupt zur WM 1993 im japanischen Morioka antreten konnte, war lange ungewiss. Zwei Wochen vor dem WM-Start brach sie sich das Handgelenk. Doch die Kanadierin biss die Zähne zusammen und übte den einarmigen Start. Damit sie erst gar nicht in Versuchung kam, die verletzte Hand einzusetzen, wurde ihr linker Stock unten etwas gekürzt.
Pace hatte zuvor zwar immer mal wieder in Abfahrtstrainings überzeugt, doch im Rennen konnte sie ihr Können selten beweisen. Nur dreimal fuhr sie vor der WM in ihrer Weltcup-Karriere in die Top 10. In Morioka gelang ihr dann der grosse Coup, dem später noch zwei Weltcup-Siege folgten.
Bis 1980 galten die Skirennen an Olympischen Winterspielen auch als Weltmeisterschaften. Und 1972 kam es in Sapporo zu einer der grössten Überraschungen im Skisport. Der Spanier Francisco Fernández Ochoa wurde im Slalom Olympiasieger und somit auch Weltmeister. Als er am Abend zur Siegerehrung ins Stadion wollte, hatte Ochoa seinen Ausweis vergessen, und die Sicherheitskräfte glaubten ihm zuerst nicht, dass er ein Medaillengewinner sei. Erst nach einigen Nachfragen durfte er hinein.
Später verteidigte Ochoa, der vor den Spielen im Weltcup nie besser als Siebter war, die Sicherheitskräfte: «Sie hatten recht», sagte Ochoa zu «Sport 1»: «Stellen Sie sich das vor: ein Olympiasieger im Skifahren aus Spanien! Das wäre wie ein japanischer König in einer Stierkampfarena.» (riz/aargauerzeitung.ch)