Sie sind jung, talentiert und bald arbeitslos. «Das ist traurig», meint Julien in einem Garten in der Nähe des Ladies Open in Lausanne. In wenigen Minuten betritt er den Court für die Partie zwischen Viktorija Golubic und Alizé Cornet. Julien und seine Kollegin Marine sind Linienrichter, eine Tätigkeit, deren Tage gezählt sind, seit die ATP im April bekannt gegeben hat, dass sie ab 2025 bei den Turnieren der Männer auf Videoschiedsrichter setzen wird.
Diese grosse Umwälzung betrifft jedoch nicht alle Tennisturniere und auch nicht alle Kategorien. So wird den Linienrichtern die Arbeit nicht sofort ausgehen, es ist jedoch nur eine Frage der Zeit. Marine macht sich Sorgen. Die Französin ist vollberufliche Schiedsrichterin. Sie hat eine vierjährige Ausbildung absolviert, um bei grossen Turnieren an der Seitenlinie stehen zu dürfen. Sie stand beim letzten French-Open-Final der Frauen zwischen Iga Swiatek und Karolina Muchova auf dem Platz. «Das ist mein Beruf, mein Leben», betont sie, und verdeutlicht damit, was die bevorstehende Revolutionierung im Schiedsrichterwesen für sie bedeutet.
«Wir haben von den Änderungen ab 2025 aus der Zeitung erfahren. Diese Schlagzeilen bereiten uns natürlich Bauchschmerzen», sagt die junge Frau. Ihr ist bewusst, dass sie und ihre Kollegen mehr kosten (Lohn, Essenspauschalen, Reise- und Unterkunftskosten) als jedes Videosystem. Der Kampf ist ungleich, aber trotzdem muss er geführt werden: «Wir müssen beweisen, dass wir auf den Platz gehören. Ein Videoschiedsrichter ist nämlich auch nicht die perfekte Lösung.»
Was hebt den Menschen von einer Hawk-Eye-Kamera ab, die sofort beurteilen kann, ob der Ball im Feld war? «Ich weiss nicht, ob wir es besser machen, aber wir sind sicher gleich gut wie der Computer. Die Fehlerquote der Linienrichter ist an einem Turnier sehr gering (Anm. d. Red.: Diese Information wurde watson von einem Verantwortlichen der WTA bestätigt) und auch ein Computer kann sich irren, je nachdem, wo er die Markierung des Balls erkennt.» Auf Sandplätzen könne ein menschlicher Linienrichter sowohl den Aufprall des Balls als auch die Spur, die der Ball hinterlässt, anschauen: «Ich kann mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, wie man auf dieser Unterlage ohne Linienrichter auskommen kann.»
Die Fachfrau findet auch, dass Linienrichter dem Tennis einen gewissen Charme verleihen: «Ich würde nicht behaupten, dass es langweilig wäre, ein Spiel ohne Linienrichter zu schauen, aber es würde an Schönheit einbüssen.»
Ohne das Orchester wäre die Musik nicht mehr dieselbe: Aus den Lautsprechern würde eine vorproduzierte, metallische Stimme ertönen, die verkündet, dass der Ball draussen ist. Dieses Prozedere wurde bereits bei einigen Turnieren getestet. «Es ist monoton und die Nuancen, die wir reinbringen, fehlen», sagt Julien. Er fügt an: «Je näher der Ball an der Linie ist, desto lauter rufen wir. So wird das Spiel sofort unterbrochen, ohne dass die Spieler an der Gültigkeit des Punktes zweifeln».
Der Schrei kommt aus dem Bauch: «Alles muss aus dem Bauch kommen, denn wenn man die Stimmbänder zu stark beansprucht, besteht die Gefahr, dass man danach mehrere Tage lang keine Spiele mehr bestreiten kann», erklären Marine und Julien, die durch ihr Menschsein mit Dingen zu kämpfen haben, die sich ein Computer nicht einmal vorstellen kann. Mit Druck zum Beispiel: «Die Seitenlinie kenne ich in- und auswendig. Im Finale von Roland Garros stand jedoch so viel auf dem Spiel, dass es sich anfühlte, als würde ich zum ersten Mal auf dem Platz stehen und als würde ich die Linie und das Publikum zum ersten Mal sehen.»
Nichtsdestotrotz haben Linienrichter nie wiederholt solch schwerwiegende Fehler begangen, die dem Sport und ihrem Ruf geschadet oder ihre Legitimität in Frage gestellt hätten. «Wir sind für die Spieler unsichtbar», sagt Julien. Manchmal gehen sie zwischen zwei Punkten nur wenige Zentimeter an uns vorbei, ohne uns auch nur eines Blickes zu würdigen, fast so, als würden wir gar nicht existieren.»
Sie sehe nicht ein, warum sie ersetzt werden sollten, meint Marine, die studiert hat, um später Sportlehrerin für Menschen mit eingeschränkter Mobilität zu werden. Im Moment würde sie aber einfach gerne noch einige glückliche Jahre auf dem Tennisplatz verbringen. Ihre grösste Angst ist die einer jeden Linienrichterin: die Angst, selbst ins Abseits zu geraten.
Muss man sich halt neu orientieren.
Ich strebe beispielsweise eine Karriere als Sinnfluencer an. Das sind Influencer, die Sinn machen. Wünscht mir Glück!